Die Schlucht
Schürze um den dicken Bauch gebunden hatte.
»Sind Sie vielleicht die beiden Herrschaften, für die ein Herr aus London zwei Zimmer reserviert hat?«, frage er.
»Genau die sind wir«, antwortete Tweed.
»Ich bin Bert Bowling. Mir gehört das Nag's Head«, erklärte er, als Tweed sie unter ihren richtigen Namen in die Gästeliste eintrug.
»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Lord Bullerton finde?«, fragte Tweed dabei beiläufig.
»Da müssen Sie wieder aus dem Ort hinausfahren und die erste Straße nach links nehmen. Die führt Sie direkt zu seinem Anwesen.«
»Vielen Dank.«
»Der arme alte Kerl hat ja in seinem Leben viel Pech gehabt«, fuhr der Wirt fort. »Er ist ein Stammgast von mir …«
»Was meinen Sie mit Pech?«
»Erst rutscht seine Frau oben am Aaron's Rock aus und stürzt den Wasserfall hinunter in die Schlucht. Die alte Mrs Grout hat das mit angesehen und hat mich geholt. Ich habe die Lady mit ihren Flügeln im Fluss treiben sehen und sie sofort herausgezogen, aber es war nichts mehr zu machen. Nicht einmal ein Arzt, der gerade in meinem Pub war, hat sie wiederbeleben können.«
»Von was für Flügeln haben Sie da eben gesprochen?«
»Lady Bullerton war eine sehr kluge und patente Frau, aber wie wir alle hatte auch sie ihren kleinen Spleen. Sie hat allen Leuten erzählt, dass sie fliegen kann, aber ich weiß, dass sie es nicht wirklich geglaubt hat.«
»Wie lange ist das jetzt her?«
»Etwa sechs Jahre.«
»Und was für Pech hat Lord Bullerton sonst noch gehabt?«
»Nun ja. Vor etwa einem Jahr sind seine beiden Töchter Nancy und Petra von einem Tag auf den anderen ausgezogen, ohne ihm vorher etwas davon zu sagen. Böse Zungen haben daraufhin das Gerücht verbreitet, dass er sie schon als Kinder geschlagen hat. Es gibt hier einige Leute, die ihn nicht mögen.«
»Hat er denn danach wieder etwas von den Töchtern gehört?«
»Soviel ich weiß, hat Nancy ihm eine Postkarte aus Kanada geschrieben und Petra eine aus Australien. Anscheinend sind sie beide ausgewandert. Aber Sie haben bestimmt Hunger. Möchten Sie Ihr Mittagessen vielleicht im Silver Room einnehmen? Dort speist Lord Bullerton auch immer, wenn er bei uns zu Gast ist.«
Der Silver Room befand sich, ebenso wie ihre Zimmer, im ersten Stock. Mit seinen mit Eichenholz getäfelten Wänden und den mit weißem Damast gedeckten Tischen stand er den Speisesälen in den teuren Londoner Hotels in nichts nach. Sobald sie Platz genommen hatten, kam eine freundliche, rotbäckige Kellnerin an den Tisch.
»Mr Bowling hat gesagt, dass Sie wichtige Gäste sind und ich mich besonders gut um Sie kümmern soll«, erklärte sie.
»Ich wüsste nicht, dass wir besonders wichtig wären«, erwiderte Tweed mit einem Lächeln und schlug die Speisekarte auf. »Sind wir denn die einzigen Gäste, die heute zum Mittagessen hier sind?«, fragte er. »Und übernachtet außer Mr Butler und uns niemand hier?«
»Nur ein Gentleman in Zimmer eins. Ein ziemlich seltsamer Zeitgenosse, der aussieht, als führe er etwas im Schilde. Aber was rede ich da. Entschuldigen Sie bitte, ich bin manchmal eine ziemliche Plaudertasche. Aber netten Menschen wie Ihnen erzählt man eben gern etwas. Ich bin gleich wieder da. Inzwischen können Sie sich ja etwas von der Karte aussuchen …«
»Da haben Sie wohl eine neue Verehrerin gefunden«, neckte ihn Paula.
»Sehen wir zu, dass wir uns mit dem Mittagessen nicht allzu lange aufhalten. Ich möchte so rasch wie irgend möglich Lord Bullerton einen Besuch abstatten.«
Nach dem Essen wollten sie gerade aufbrechen, als der Wirt an ihren Tisch kam und sich überschwänglich entschuldigte.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie, was seine Lordschaft angeht, vielleicht auf falsche Gedanken gebracht habe. Nicht alle seine Töchter haben sein Haus verlassen, er hat noch zwei jüngere Töchter, die noch immer bei ihm in Hobart House leben. Und einen zwanzigjährigen Sohn namens Lance, sein jüngstes Kind. Er hatte sich diesen Stammhalter so sehr gewünscht, aber jetzt scheint er mit ihm nicht mehr so richtig klarzukommen. Und dann ist noch etwas sehr Tragisches in der Familie passiert.«
»Was denn?«, fragte Paula.
»Lord Bullertons drittälteste Tochter Lizbeth ist vor ein paar Jahren beim Schwimmen im Fluss ertrunken. Eigentlich war sie ja eine hervorragende Schwimmerin, aber an dem Tag, an dem es passiert sein soll, hatte der Fluss Hochwasser und eine sehr starke Strömung.« Er strich sich eine graue Locke aus der Stirn.
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