Die Schlucht
»Manche Leute fanden es bloß ziemlich seltsam, dass man ihre Kleider fein säuberlich zusammengelegt im Gras gefunden hat.«
»Was ist daran seltsam?«
»Lizbeth galt als extrem unordentlich, sie hätte ihre Kleider einfach ausgezogen und hingeworfen.«
»Und ihre Leiche wurde nie gefunden?«, vermutete Tweed.
»Richtig. Nicht weit vom Hotel gibt es am Ufer übrigens einen Gedenkstein, den seine Lordschaft für seine ertrunkene Tochter hat aufstellen lassen. Aber jetzt will ich Ihnen nicht noch mehr von Ihrer kostbaren Zeit stehlen.«
»Was halten Sie von der Sache?«, fragte Tweed, als sie im Audi wieder aus der Ortschaft fuhren.
»Ich muss meine Gedanken erst einmal sortieren. Wir haben jetzt so viele Informationen bekommen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll …«
Tweed bog nach links auf eine schmale Straße ab, die von hohen Hecken gesäumt wurde. Das musste der Weg nach Hobart House sein. Auf einmal war von draußen ein lauter Knall zu hören, und gleichzeitig schlug etwas direkt vor Tweed gegen die Windschutzscheibe des Wagens, ohne dass sie dabei kaputtging.
»Das war eine Kugel«, rief Paula entsetzt aus. »Und zwar auf Sie gezielt.«
Tweed trat aufs Gas, obwohl er nicht wusste, was hinter der nächsten Kurve auf sie wartete. Paula hatte bereits die Browning aus ihrer Umhängetasche gezogen und hielt sie schussbereit in ihrem Schoß.
»Zum Glück haben wir auf Harry gehört und den gepanzerten Wagen genommen. Diese Kugel hätte Sie direkt am Kopf getroffen.«
»Bei der Geschwindigkeit, die ich vorhin gefahren bin, muss man dafür kein Meisterschütze sein«, erwiderte Tweed ungerührt.
»Das scheint Sie zu freuen«, sagte sie erstaunt. »Ich frage mich nur, weshalb.«
»Dieser Mordversuch zeigt uns, dass wir auf der richtigen Spur sind. Irgendjemand möchte verhindern, dass wir hier herumschnüffeln. Oder«, erklärte er mit einem sarkastischen Grinsen, »vielleicht ist das nur Lord Bullertons Art, uns auf Hobart House willkommen zu heißen.«
7
Die hohe Hecke zu ihrer Rechten hörte plötzlich auf, und Paula blickte fasziniert aus dem Fenster. Vor ihnen tat sich eine Landschaft von grandioser Schönheit auf. Sie blickte in ein grünes, tief eingeschnittenes Tal, an dessen Ende auf einem kleinen Hügel ein einzelnes Herrenhaus stand.
»Was für ein wunderschönes Haus«, sagte Paula.
»Sieht aus, als wäre es aus dem 18. Jahrhundert«, erwiderte Tweed. »Sieht so aus, als hätte es einen quadratischen Grundriss, so dass Länge und Breite des Hauses gleich sind.«
»Und vor dem Haus ist ein traumhaft blauer See.«
»Dann dürften wir also Hobart House gefunden haben. Mal sehen, wie sie uns aufnehmen werden …«
Er fuhr eine kurvige Straße den steilen Hügel hinab, während Paula die Landschaft näher betrachtete. In einiger Entfernung hinter dem Haus erhob sich ein düsteres graues, mit Stechginster bewachsenes Hochmoor.
Direkt unterhalb einer Marmortreppe, die auf eine große Terrasse hinaufführte, war ein kleiner brauner Ford geparkt. Tweed stellte seinen Wagen dahinter ab. Als sie die Treppen hinaufstiegen, ging die Eingangstür auf, und ein Mann trat heraus, während die Tür hinter ihm wieder geschlossen wurde.
»Meine Güte, das ist ja Falkirk«, flüsterte Paula.
Der Privatdetektiv war gepflegter gekleidet, als sie es von ihm kannten. Er trug eine neue Lederjacke, eine Krawatte und gut geschnittene blaue Hosen. Er warf Paula einen wachen und zugleich amüsierten Blick zu.
»Was für eine Überraschung«, sagte er. »Wenn ich Sie sehe, Paula, ist mein Tag ja gerettet.«
»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete sie schnippisch.
»Ich vermute, Sie haben mich observieren lassen«, sagte er hämisch. »Ihr Spion hat seine Sache wirklich gut gemacht. Ich habe ihn nicht bemerkt. Viel Spaß dann noch«, fuhr er fort, während er Tweed keines Blickes würdigte. »Ich habe noch einige Dinge zu erledigen.«
»Wir unterhalten uns noch«, sagte Tweed in düsterem Ton.
»Aber mit Vergnügen«, rief ihm Falkirk zu, als er sich mit betont sportlicher Geste ans Steuer seines Fords setzte. Dann fuhr er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Serpentinen hinauf und hinterließ nur eine dicke Staubwolke.
»Nicht jetzt«, fuhr Tweed Paula an, die gerade etwas sagen wollte.
Er drückte auf die Klingel und pochte dann mit dem Klopfer mehrere Male laut gegen die Tür. In weniger als dreißig Sekunden wurde die Tür geöffnet, und eine große, schwarz gekleidete Frau mit
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