Die Schlucht
dem steilen, staubigen Weg nach oben kamen. Durch eine schmale Durchfahrt zwischen zwei rechts und links von der Straße aufragenden Granitfelsen erreichten sie ein freies Plateau, auf dem Tweed den Audi wendete, damit sie bei Gefahr schnell flüchten konnten. Dann stiegen sie aus und traten an den Rand des Plateaus, vor dem riesige weiße Gischtwolken in die Luft wirbelten. Das Tosen war jetzt ohrenbetäubend laut.
Keine zehn Meter von ihnen entfernt stürzte der vom Hochwasser angeschwollene Fluss über eine natürliche Felsstufe und verschwand brüllend, gurgelnd und schäumend in der Schlucht, aus der immer neue Wolken von Gischt aufstiegen. Obwohl Paula eigentlich Höhenangst hatte, trat sie vor lauter Neugierde noch näher an den Rand der Schlucht heran und sah, wie das Wasser fünfundvierzig Meter hinab in die Tiefe stürzte. Von dem beständigen Tosen in ihren Ohren wurde ihr auf einmal schwindlig, und sie suchte verzweifelt nach einem Halt, um nicht auf dem nassen, glatten Boden auszurutschen. Sie glaubte zu hören, dass Tweed ihr etwas zurief, aber über das Donnern des Wasserfalls konnte sie nicht verstehen, was er meinte.
Später konnte sie sich nur noch daran erinnern, dass sie ein starker Arm um die Hüfte herum packte und von der Felskante nach hinten riss. »Tun Sie ge nau, was ich sage!«, brüllte ihr Tweed ins Ohr. »Sie gehen jetzt ganz langsam Schritt für Schritt rückwärts. Langsam, habe ich gesagt! Der Fels hier ist so glatt wie eine Eisfläche.«
Paula tat, was Tweed von ihr verlangte, und ließ sich Schritt für Schritt von ihm aus der Gefahrenzone bringen. Erst als er sie nach ein paar Metern wieder losließ und sie nach dem Schrecken wieder richtig durchatmen konnte, bemerkte sie, dass der Wasserfall sie klatschnass gemacht hatte.
»Das war knapp«, sagte Tweed. »Nur einen Schritt weiter, und Sie wären in die Schlucht gestürzt. Manchmal frage ich mich wirklich, was in Ihnen vorgeht.«
»Tweed, Sie sind der Held des Tages«, ließ sich auf einmal eine den beiden wohlbekannte Stimme vernehmen, und gleich darauf kam Marler hinter einem Gebüsch hervor, eine große Picknickdecke in der Hand.
»Hier, wickeln Sie sich erst einmal in die ein«, sagte er zu Paula. »Und dann trinken Sie etwas.« Er reichte ihr eine kleine Metallflasche.
»Ist das Alkohol?«, fragte Paula vorsichtig.
»Wo denken Sie hin. Das ist reines Quellwasser. Aber lassen Sie Tweed auch noch einen Schluck übrig.«
Nachdem Paula getrunken hatte, fühlte sie sich wieder ein wenig besser. Marler, der ruhig und gelassen war wie immer, trug einen Regenmantel und hatte eine kleine Kamera mit Zoomobjektiv um den Hals hängen.
»Sie haben vielleicht Nerven«, sagte er zu Paula.
»Mir ist nur für einen kurzen Augenblick schwindlig geworden …«
»Dieser Augenblick war nicht gerade günstig. Um ein Haar wäre es ihr letzter geworden.«
»Was machen Sie eigentlich hier oben?«, fragte Tweed Marler.
»Ich sehe mir an, was auf der anderen Seite der Schlucht ist.«
»Und was ist da?«
»Drei große Höhlen und darüber und darunter noch einmal zwei. Sieht aus, als ob die ganze Felswand durchlöchert wäre.«
»Darin haben sich bestimmt Cromwells Männer versteckt«, sagte Paula, die plötzlich wieder an Lord Bullertons lebhafte Schilderung der Schlacht denken musste.
»Mich interessiert weniger, wer sich dort versteckt hat , als vielmehr, wer sich dort verstecken könnte «, erklärte Marler und sah Tweed und Paula durchdringend an. »Lepard und seine Killerbande zum Beispiel. Von dort aus hat man die Straße hervorragend im Blick und kann jeden abknallen, der sie herauffährt. Tweed, wie oft haben Sie noch vor, mit Ihrem Audi diese Straße entlangzufahren?«
»Ein paarmal schon noch …«
»Wunderbar. Dann geben Sie ein perfektes Ziel ab.«
»Was reden Sie denn da?«, protestierte Paula empört.
»Lassen Sie mich doch bitte ausreden«, erwiderte Marler. »Tweed wird ja gar nicht am Steuer sitzen, sondern jemand aus unserem Team, der als Tweed verkleidet ist. Vermutlich müssen wir losen, wer den Fahrer spielen darf, weil sie sich bestimmt alle freiwillig melden werden.«
»Das ist nicht nötig«, erklärte Tweed mit entschlossener Stimme. »Bei so etwas lasse ich mich nicht von jemand anders vertreten.«
»Dann werde ich Sie aber wenigstens begleiten«, erklärte Paula.
»Nein, das werden Sie nicht«, sagte Tweed und warf ihr einen finsteren Blick zu. »Das ist ein Befehl, haben Sie
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