Die Schlucht
halten Sie denn von Lance?«, fragte Tweed, als sie unter einem Regenschirm, den der Wirt ihnen gegeben hatte, auf den Audi zugingen.
»Er ist aalglatt. Zu glatt für meinen Geschmack«, antwortete Paula. »Auch wenn er unschuldig wie ein Lamm wirkt, traue ich ihm nicht über den Weg. Und sein gutes Aussehen nutzt er schamlos aus.«
»Meiner Meinung nach lügt er wie alle anderen hier auch. Mit Ausnahme von Mrs Grout. Aber jetzt würde ich gern hinauf zum Aaron's Rock oben an der Schlucht fahren. Wenn der Regen aufhört, müsste man von dort einen spektakulären Ausblick haben.«
Als Tweed durch die Ortschaft fuhr, beobachtete Paula mit ihrem Fernglas die Straße auf dem gegenüberliegenden Ufer des Flusses.
»Die Straße da drüben heißt Ascot Way«, sagte sie. »Vermutlich wohnen dort die Pferdeliebhaber. Tweed, könnten wir bitte für einen Augenblick anhalten? Ich glaube, ich habe den Weg zu dem Gedenkstein gefunden, den Lord Bullerton für seine ertrunkene Tochter errichtet hat.«
»Seine angeblich ertrunkene Tochter«, sagte Tweed, als er aus dem Wagen stieg und Paula den geschwungenen Weg durch das saftig grüne Gras folgte.
»Warum ›angeblich‹?«, fragte Paula.
»Weil man ihre Kleidung fein säuberlich zusammengelegt am Flussufer gefunden hat, obwohl alle sagen, dass sie normalerweise sehr unordentlich war. Das passt für mich nicht zusammen.«
»Sehen Sie nur, da vorn ist der Stein!«, rief Paula. Sie rannte hin und las die Inschrift:
FÜR LIZBETH
E INES T AGES KOMMST D U ZURÜCK
D EIN D ICH LIEBENDER VATER
»Diese liebevollen Worte passen gar nicht zu dem aufbrausenden Mann«, sagte Paula kopfschüttelnd. »Bullerton hat ja nicht nur uns grob behandelt, sondern auch diesen Prospektor Archie MacBlade.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Niemand von uns kann sagen, wer Lord Bullerton wirklich ist. Und wie ich Ihnen bereits gesagt habe, die menschliche Natur ist enorm komplex und verblüfft uns immer wieder. Aber jetzt lassen Sie uns zur Schlucht fahren. Der Fluss ist in der Tat stark angestiegen.«
Lepard saß auf einem Klappstuhl in dem Cottage oben am Berg, das er für zwei Wochen gemietet hatte, und wandte den Blick nicht von der Straße, die hinauf zur Schlucht führte.
Mit der grauen, ungepflegt wirkenden Perücke und dem breitkrempigen Strohhut, den er hier ständig trug, hätten ihn nicht einmal seine Freunde im Londoner East End wiedererkannt. Seiner Vermieterin, Mrs Wharton, hatte er erklärt, dass er unter einer schlimmen Sonnenallergie leide und deshalb ständig Hut und Handschuhe tragen müsse. Um sich weiter unkenntlich zu machen, hatte er farbige Kontaktlinsen in den Augen und eine Hornbrille mit Fenstergläsern auf der Nase. Würde Mrs Wharton ihn bei einer polizeilichen Gegenüberstellung ohne all diese Dinge sehen, würde sie ihn mit Sicherheit nicht erkennen.
Per Handy hatte er am Vormittag die von ihm angeheuerte Bande von Profikillern nach Gunners Gorge beordert und seinem Stellvertreter Ned Marsh befohlen, eine Panzerfaust mit mehreren Geschossen mitzubringen.
Sofern Tweed ebenfalls sein Team herholte, konnte es zu einer regelrechten Feldschlacht kommen, und für die wollte er gerüstet sein.
Lepard blickte wieder hinter der Gardine, die ihn vor Blicken von draußen verbarg, durch das Fenster. Leider konnte er von seiner Hütte aus nur die Straße, aber nicht die Schlucht oder den Gipfel des Berges sehen.
Plötzlich schrak er zusammen, weil er Tweeds Audi in raschem Tempo die Straße entlangfahren sah. Noch bevor Lepard zu seinem Gewehr greifen konnte, war der Wagen auch schon an ihm vorbei.
»Das nächste Mal entkommst du mir nicht«, murmelte der Killer leise vor sich hin. Sollte Tweed jemals wieder diese Straße benutzen, war er ein toter Mann.
»Ich glaube«, sagte Tweed zu Paula, als sie in Richtung Schlucht fuhren, »es wird höchste Zeit, dass Marler hier eintrifft.«
»Warum Marler?«, fragte sie.
»Weil er ein perfekter Stratege ist. Er soll sich die Gegend hier einmal genauer ansehen.«
Unterdessen blickte Lepard noch immer durch das Fenster seiner Hütte hinaus auf die Straße. Wenige Minuten nachdem Tweeds Audi vorbeigefahren war, sah er einen weiteren Wagen, einen grünen Saab, der langsam auf die Schlucht zufuhr. In dem Wagen saß nur ein Mann, vermutlich ein Einheimischer. Lepard jedenfalls dachte sich nichts Böses …
Als sie sich der Abzweigung zum Aaron's Rock näherten, hörte Paula ein donnerndes Tosen, das immer lauter wurde, je weiter sie auf
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