Die Schlucht
aus nicht sehen konnte.
Als sie einen Augenblick lang stehen blieb, um sich ihre Handschuhe anzuziehen, war ihr auf einmal, als hätte sie im Augenwinkel ein Licht aufblitzen sehen. Ein Licht oben im Moor? Aber wer sollte um diese Zeit dort etwas verloren haben? Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht.
In der hereinbrechenden Dunkelheit war es nicht einfach, sich zu orientieren und die Stelle zu finden, an der sie den Tunneleingang entdeckt hatte. Dann fiel ihr der große runde Fels ein, der den Haufen mit Ginsterzweigen markierte, hinter dem sich der Eingang verbarg. Er befand sich, wenn sie sich richtig erinnerte, ein ganzes Stück weiter oben am Hang. Und so fing Paula an zu klettern, wobei sie froh war, dass sie sich eine alte Jeans angezogen hatte, denn manchmal war sie gezwungen, besonders steile Wegstücke auf allen vieren zu bewältigen.
Einmal glaubte sie, aus der Ferne eine leise Stimme zu hören, die wie ein unterdrücktes Stöhnen klang. War das ein Mensch oder ein Tier? Oder nur der Wind, der über das Hochmoor strich? Paula tastete unter ihrer Lederjacke nach der Browning, die sie in ein Schulterhalfter gesteckt hatte.
Eine ganze Weile irrte sie zwischen den Stechginsterbüschen umher, deren dornige Zweige sich wie vielarmige, mit unzähligen Krallen versehene Fabeltiere vom immer dunkler werdenden Himmel abhoben. Sie wollte schon aufgeben und wieder zurück ins Hotel fahren, als sie mit dem Fuß gegen etwas Hartes stieß und stehen blieb. Es war der Stein, der den Eingang zu dem Stollen markierte.
So ein Glück, dachte sie, denn in der Dunkelheit hätte sie den Haufen abgeschnittener Zweige, der den Stollen verbarg, nicht von den Ginsterbüschen rings um unterscheiden können.
Nachdem sie die Zweige mit ihren behandschuhten Händen beiseitegeräumt hatte, schaltete sie die kleine Taschenlampe ein, die sie sich aus dem Audi mitgenommen hatte, und tastete sich Schritt für Schritt in den niedrigen Stollen hinein. Nach ein paar Metern kam sie zu einer großen, kreisrunden Metalltür, und als sie entschlossen am Türgriff drehte, ließ die Tür sich ohne das geringste Geräusch öffnen.
Der Eingang war gerade groß genug, dass sie auf allen vieren in den Tunnel hineinkriechen konnte.
Drinnen führte ein direkt aus dem dunklen Fels gehauener Gang steil nach unten.
»Das schaffst du schon, Mädchen«, ermutigte sie sich selbst, zurrte den Rucksack fester und kroch auf Händen und Knien in den Stollen hinein.
Als Dermot Falkirk Tweeds Suite im Nag's Head betrat, registrierte Tweed, dass er ganz anders aussah als der Mann, den er und Paula aus dem Polizeigefängnis in London befreit hatten. Sein schwarzes Haar war frisch geschnitten, sein Schnurrbart war perfekt gestutzt, und er trug einen eleganten dunkelblauen Anzug.
Tweed bot Falkirk den bequemsten Sessel in der Suite an und setzte sich ihm gegenüber.
»Wie geht es Ihnen, Dermot?«, fragte er mit einem verbindlichen Lächeln.
»Ehrlich gesagt, bin ich ein bisschen ausgelaugt«, erwiderte Falkirk. »Aber das ist kein Wunder, wo ständig so viel passiert. Ich habe eine Unmenge an Informationen für Sie, Tweed. Eigentlich dürfte ich Ihnen das alles nicht sagen, aber es ist wichtig, dass Sie es wissen. Ich wurde einst von Miss Lisa Clancy engagiert, um Nancy und Petra Mandeville zu suchen.«
»Die nach Kanada und Australien ausgewandert waren.«
»Waren sie gar nicht. Der Trick mit den beiden Postkarten sollte ihren Vater auf die falsche Fährte führen. In Wahrheit hatten sie sich in London zwei Häuser in derselben Straße gekauft.«
»In der Lynton Street …«, sagte Tweed, dem augenblicklich ein Zusammenhang dämmerte.
»Genau. Lisa hat das Haus zwischen den beiden gemietet, als es frei wurde.«
»Dann waren die beiden entstellten Toten die Töchter von Lord Bullerton!«, sagte Tweed düster. »Und wenn ich nicht komplett falsch liege, dann heißt Lisa Clancy in Wahrheit ganz anders, nämlich …«
»… Lizbeth Mandeville«, beendete Falkirk den Satz für ihn.
»Aber Lizbeth Mandeville war doch angeblich beim Schwimmen im Fluss ertrunken.«
»In Wirklichkeit war sie das aber nicht. Das ganze war ein Täuschungsmanöver, das sich die drei Schwestern ausgedacht hatten. Lizbeth hat es damals zu Hause nicht mehr ausgehalten, sie musste von dort verschwinden. Und zwar spurlos.«
»Hat Lisa - pardon, Lizbeth - Ihnen erzählt, warum sie von zu Hause weggegangen ist?«
»Ja.« Falkirk verzog das Gesicht. »Aber es hat lange gedauert, bis
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