Die Schlucht
leichenblasses Gesicht, dessen morbide Ausstrahlung von seiner mageren, hoch aufgeschossenen Figur noch zusätzlich unterstrichen wurde. Auf seinen dünnen Lippen spielte ein seltsames Lächeln.
Mit leicht hinkenden Schritten kam er auf Paula zu - zumindest diesen Teil seiner Maskerade hatte er beibehalten - und wollte ihr die Hand geben, aber Paula, die die Hände in die Taschen ihrer Jacke gesteckt hatte, nahm sie nicht heraus.
»Schade«, sagte Guile und zog seine Hand zurück. »So oft werden Sie nun auch wieder nicht Gelegenheit haben, einem Milliardär die Hand zu schütteln.«
Paula erinnerte sich an seine Stimme, die sie aus einiger Entfernung am Finden Square gehört hatte. Weil sie nicht unhöflich sein wollte, nahm sie die rechte Hand aus ihrer Tasche und schüttelte ihm die Hand. Dabei hatte sie ein Gefühl, als ob sie einen Fisch angefasst hätte.
»Ich bin auf der Suche nach einer persönlichen Assistentin, Miss Grey«, sagte Guile und tupfte sich die Lippen mit einem seidenen Taschentuch ab. »Sie sind mir empfohlen worden, weil Sie unglaublich effizient sein sollen. Ich wäre bereit, Ihnen ein Jahresgehalt von 80 000 Pfund zu zahlen, Sondervergütungen natürlich extra.«
»Vielen Dank für das Angebot«, erwiderte Paula, ohne lange nachzudenken, »aber ich habe bereits eine Stelle, mit der ich sehr zufrieden bin.«
»Das mag sein, aber niemand weiß, wie lange noch. Was tun Sie, wenn Mr Tweed das Zeitliche segnet?«
»Es wurden schon viele Mordanschläge auf ihn verübt. Bisher hat er alle überlebt.«
»Meine Angebote hat noch niemand abgelehnt.« Die dünne, hohe Stimme wurde so scharf, dass sie fast bedrohlich wirkte.
»Irgendwann ist immer das erste Mal«, lachte sie sanft. »Und oft ist eine Zurückweisung sehr heilsam für ein übersteigertes Ego.«
»Das hätten Sie nicht sagen sollen.« Sein Gesicht erstarrte zu einer kalten, blassen Maske. »Wer mich beleidigt, wird seines Lebens nicht mehr froh …«
Er ging zur Tür und verließ den Salon.
Paula atmete tief ein und ging auf ihr Zimmer. Von den Begegnungen mit Mandeville und Guile fühlte sie sich irgendwie beschmutzt und nahm deshalb ein langes, heißes Bad.
In der Wanne fiel ihr siedend heiß ein, dass sie Tweed noch immer nicht von dem Tunneleingang erzählt hatte, den sie bei ihrem Spaziergang im Black Gorse Moor entdeckt hatte. Es war einfach so viel vorgefallen, dass sie erst nicht dazu gekommen war und es danach schlichtweg vergessen hatte.
Jetzt war ihr dieses Versäumnis peinlich. Was wäre, wenn dieser Tunnel einen wichtigen Hinweis für die Lösung des Falles barg?
Paula konnte Tweed unmöglich nachträglich von dem Tunnel erzählen, das wäre unprofessionell. Ihr blieb also nur eine Möglichkeit: Sie musste hinauf ins Moor und nachsehen, was es mit dem Tunnel auf sich hatte. Wenn er, wie sie insgeheim hoffte, bloß einem Bauern als Unterstand für seine Schafe diente, brauchte sie Tweed nichts davon zu sagen.
Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich an. Nachdem sie ein paar Dinge in ihren Rucksack gepackt hatte, schrieb sie auf einen Zettel, dass sie sehr müde und erschöpft sei und lieber früh ins Bett gehen wolle. Tweed solle sie bei Lord Bullerton entschuldigen und allein zum Abendessen nach Hobart House fahren. Sie steckte den Zettel in einen Briefumschlag, schrieb Tweeds Namen darauf und klebte ihn zu.
In Lederjacke und hohen Stiefeln ging sie hinaus auf den Flur und horchte kurz an Tweeds Zimmertür. Als sie hörte, dass alles still war, vermutete sie, dass Tweed ein kurzes Nickerchen machte, und schob den Briefumschlag unter der Tür hindurch.
Unten in der Eingangshalle war der Wirt gerade vollauf damit beschäftigt, einer elegant gekleideten Dame etwas auf einer Landkarte zu erklären, so dass Paula sich unbemerkt an ihm vorbei nach draußen schleichen konnte.
Auf dem Parkplatz setzte sie sich hinter das Steuer des Audi, zu dem sie einen eigenen Schlüssel hatte. Erst als sie vom Parkplatz auf die Straße hinausfuhr, kam ihr der Gedanke, dass sie sich möglicherweise in Gefahr begab.
Die Sonne ging schon unter, als Paula den Wagen oben auf dem Berg hinter einer dichten Hecke abstellte. Sie stieg aus und sah in einiger Entfernung Hobart House, dessen Fenster hell erleuchtet waren. Sie musste sich beeilen, denn Tweed würde den Audi brauchen, um zu Lord Bullertons Abendessen zu fahren.
Forschen Schrittes wanderte Paula hinaus aufs Moor, wobei sie darauf achtete, dass man sie vom Haus
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