Die Schmetterlingsinsel
doch angesichts der Landschaft, des Teefeldes hinter ihm und des in der Ferne erkennbaren Herrenhauses glaubte sie, dass dies Dean Stockton war. Außerdem erinnerte sie sich noch schemenhaft an das Foto aus dem Hills Club, wo sie allerdings ihre Aufmerksamkeit mehr auf Henry Tremayne gerichtet hatte.
Er wirkte auf den ersten Blick nicht wie ein Mann, der es nötig hatte, einem blutjungen Mädchen nachzusteigen. Seine kantigen Züge wirkten ernst und gewissenhaft, der sauber getrimmte Bart und seine ordentlich gekämmten, zu dem Zeitpunkt schon leicht grau melierten Locken zeugten von Eitelkeit. Ob der Maler bei seinem Körper ein wenig geschönt hatte oder der Bauch, den viele Männer in seinem Alter bekamen, einfach nicht vorhanden war, würde nicht mehr zu ermitteln sein. Auf jeden Fall war Dean Stockton eine blendende Erscheinung, und nur die schwarzen, unergründlichen Tiefen seiner Augen deuteten auf die unterdrückten Gelüste eines waschechten Viktorianers hin.
Als sie sich umwandte, bemerkte sie, dass Jonathan sie die ganze Zeit über beobachtet hatte.
»Das ist der Mann von dem Clubfoto, nicht wahr?« Jonathan hatte es nicht vergessen.
»Ich nehme es an. Wer, wenn nicht der Herr dieser Plantage, hätte hier ein lebensgroßes Bildnis von sich aufstellen lassen.«
»Vielleicht finden wir etwas, das auf das Verhältnis der Stocktons zu den Tremaynes hindeutet. Der Verwalter hat uns eine Stunde Zeit gegeben, wir sollten uns ans Durchsuchen der Räume machen.«
Diana nickte, und während sie die Treppe hinunterstieg, hatte sie tatsächlich das Gefühl, als würden sich Stocktons tote Augen in ihren Rücken bohren.
Viele Räume waren restlos leer geräumt, die nackten Kabel, die von den Wänden hingen, deuteten darauf hin, dass sich hier irgendwann einmal Büros befunden haben mussten, doch das Mobiliar war längst fortgeschafft worden.
Nachdem sie unten nicht fündig geworden waren – selbst der Raum, den Diana für den Salon gehalten hatte, war leer –, gingen sie an Stocktons Abbild vorbei in die erste Etage.
Hier waren einige Türen verschlossen, der Blick durchs Schlüsselloch offenbarte Räume, die wohl schon zu Zeiten, in denen es der Plantage noch gut ging, nicht mehr benutzt worden waren.
»Sieh an, es gibt in diesem Haus doch so etwas wie ein kleines privates Museum.«
Hinter der Tür, die Jonathan aufgestoßen hatte, befand sich eines der wenigen noch möblierten Zimmer. Das Arbeitszimmer von Dean Stockton, wie Diana beim Eintreten vermutete. Die hohen Buchregale waren um die wertvollsten Exemplare erleichtert worden, nur unansehnliche, verzogene Bücher lagen dort unordentlich herum. Die wertvollen Möbel waren entweder rechtzeitig gesichert worden oder den Dieben einfach zu schwer gewesen. Papier stapelte sich in den breiten Fensterlaibungen, ungeordnete Dokumente aus verschiedenen Zeiten, vergilbte Tageszeitungen, verblichene Papphefter.
Als sie ihren Blick weiterschweifen ließ, entdeckte Grace einen Stapel Broschüren mit einem Foto von dem Herrenhaus aus besseren Tagen auf dem Titel. Vergilbt und von der Sonne ausgeblichen stapelten sie sich kreuz und quer auf einer alten, an den Kanten angeschlagenen Kommode.
Diana zog eines der Heftchen hervor und schlug es auf. Ein Zittern ging durch ihren Körper, als sie las und feststellte, dass sich der Besitzer tatsächlich die Mühe gemacht hatte, die Geschichte der Plantage in zwei Sprachen zu verfassen, Englisch und Singhalesisch.
Neben allgemeinen Fakten fand sie auch ein Familienbild der Stocktons, das ihr die Identität des Mannes auf dem Treppengemälde bestätigte.
»Dean Stockton führte die Plantage zur höchsten Blüte und legte die Geschäfte krankheitsbedingt im Alter von siebzig Jahren in die Hände seines Sohnes. Zwei Jahre später starb er und folgte seiner Frau, die bereits zwanzig Jahre zuvor plötzlich verstorben war.«
Diana warf einen Blick auf die Kurzbiographie. Alice Stockton starb mit dreiundvierzig – im Jahr 1888. Ob Stockton noch eine weitere Ehe eingegangen war, stand nicht da.
»Ich frage mich, ob Stockton etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hatte«, murmelte sie leise vor sich hin.
»Wie kommen Sie darauf, Holmes?«, entgegnete Jonathan.
»In Graces Notiz habe ich bisher nur eine Datumsangabe gefunden, und zwar den vierten Oktober 1887. Es wäre doch möglich, dass Stockton Grace selbst den Hof machen wollte. Nach der Sache auf dem Aussichtsturm zu urteilen, schien er ja schon länger ein Auge auf
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