Die Schmetterlingsinsel
Mädchen darauf vor, verheiratet zu werden, das hatte Grace bei einem ihrer Besuche mitbekommen.
»Was?«, fragte Vikrama, und während er sie so ansah, hatte sie das Gefühl, dass er sie gleich umarmen wollte – eine Geste, die ihr durchaus willkommen gewesen wäre.
»Alle Anzeichen sprechen dafür, dass mich meine Mutter verheiraten will. Mit George Stockton.«
Vikramas Gesichtsausdruck war zunächst nicht zu deuten, doch Grace entging nicht, dass sich sein Körper versteifte.
»Oh, dann …« Mehr sagte er nicht, der Gedanke, den er aussprechen wollte, schien vom Nachtwind davongetragen worden zu sein.
»Es ist nur so, dass ich ihn nicht heiraten will. Ich liebe ihn nicht.«
Zwischen Vikramas Augen erschien eine Falte, die, obgleich sie sehr zart war, sein Gesicht einige Jahre älter wirken ließ.
»Nicht immer hat Heirat etwas mit Liebe zu tun«, sagte er, wobei sich seine Stimme beinahe traurig anhörte. Er wich ein Stück von ihr zurück, so als wäre ein Keil zwischen sie geschoben worden, dann sah er sie ernst an. »Auch in meinem Dorf werden Mädchen an Männer vergeben, die von ihren Familien ausgesucht werden. Hier können Mädchen nur innerhalb ihrer Kasten heiraten.«
»Haben Sie … haben Sie eine Frau?«
Vikrama schüttelte den Kopf. »Nein, denn ich gehöre als Mischling eigentlich zu keiner der Kasten. Ich bin in jedem Haus willkommen, aber niemand würde mir seine Tochter geben. Es ist bestimmt, dass Hindus nur innerhalb ihrer Kasten heiraten können. Ich werde bestenfalls eine Frau von den Burghern haben, Mischlinge, die keiner Kaste angehören.«
Grace sah ihn an. Jede Linie seines Gesichts erschien ihr so vertraut, dass sie sie mit geschlossenen Augen hätte zeichnen können. Eine ungeahnte Wärme überkam sie bei seinem Anblick, seine Worte hatten sie erleichtert. Er war frei, frei sie zu lieben. So wie sie ihn liebte.
Kurz hallte ihr die Prophezeiung durch den Verstand, dass sie Unglück über ihre Familie bringen würde, doch sie schrieb sie in den Wind. Warum ließ sie sich vom Geschwätz eines alten Mannes leiten? Außerdem würde es wahrscheinlich eher ein Unglück geben, wenn sie sich fügte und einen Mann heiratete, für den sie nicht einmal im Entferntesten Gefühle aufbringen konnte.
Auf einmal war er bei ihr, ganz nahe, sein Gesicht nur ein Haarbreit von ihrem entfernt, seine Hände auf ihrem Rücken. Nur kurz sah er sie an, spürte in ihrem Blick eventueller Gegenwehr nach, und als er diese nicht fand, küsste er sie. Seine Lippen waren zunächst trocken, doch als sie sich öffneten, spürte Grace das feuchte Innere. Sie konnte nicht anders, als ihn einzulassen, zuzulassen, dass seine Zunge sich um ihre schlang und tief in ihren Mund glitt. Ihr gesamter Körper kam ihr plötzlich vor, als würde er brennen, der Puls rauschte wie ein Sturm in ihren Ohren.
Als er sich zurückzog, kam es ihr vor, als würde sich Kälte über ihr Gesicht legen. Sogleich sehnte sie sich wieder nach seiner Nähe.
»Ich …«, begann sie, doch sie verstummte, als er ihre Hand nahm.
»Wir sollten uns einen Ort suchen, an dem wir reden können«, sagte er leise.
Grace nickte, dann ließ sie sich mit in die Dunkelheit ziehen. Unterwegs schossen ihr tausend Dinge durch den Kopf, die ihr so laut erschienen, als würde sie sie aussprechen.
Als sie das kleine Holzhaus betraten, schlug Grace das Herz bis zum Hals. Was würde jetzt passieren? Redeten sie die ganze Nacht nur? Oder taten sie noch anderes?
Egal was, sie wollte es aus ganzem Herzen. Sie sehnte sich nach seiner Haut und danach, wieder seine Lippen auf ihrem Mund zu spüren. Sie wollte seine Wärme spüren wie vorhin, als er sie in seinen Armen gehalten hatte.
»Ich …«, begann sie erneut, doch die Worte vertrockneten in ihrem Mund, als sie ihn ansah. Wieder fanden ihre Lippen zueinander, diesmal sanfter, und ihre Hände wanderten über den Körper des jeweils anderen, als gälte es, etwas Zerbrechliches zu erforschen.
Als sie sich wieder voneinander lösten, zog er die Tür hinter sich zu. Die Tatsache, dass sie jetzt wirklich allein waren, erregte sie und ließ sie beinahe vergessen, dass es in der kleinen Unterkunft einiges zu sehen gab. Da er nicht gleich zu ihr kam, sondern sie umrundete und das weiße Bündel auf dem Tisch ablegte, wurde sie förmlich dazu gezwungen, sich umzusehen. Noch waren im Mondschein nur Umrisse zu erkennen, doch sie wurden zu Gegenständen, als Vikrama die Lampen anzündete, die auf dem
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