Die Schmetterlingsinsel
ihrer Sprache auskannten. Oder hatte er sich geirrt? Hatte sich die Geschichtsforschung mittlerweile auch die Schicksale der Menschen einverleibt?
»Was steht denn in diesen Ola?«, fragte Diana, um sicherzugehen, dass sie wirklich von ein und denselben Palmblättern sprachen.
»Nun, alles an Wissen, was es wert war, aufgezeichnet zu werden«, antwortete Singh. »Die Tamilen waren schon seit jeher ein schriftkundiges Volk. Die meisten dieser Aufzeichnungen sind während der Kolonialzeit vernichtet worden, aber einen großen Teil kann man sich immer noch in den Museen anschauen.«
»Dann fürchte ich, sind es nicht die Palmblattbücher, nach denen ich suche.«
Zunächst sah Singh sie fragend an, dann erschien hinter seinen Augen das Licht der Erkenntnis.
»Ah, verzeihen Sie mir, Sie wollen sich die Zukunft weissagen lassen. Diese Art von Olas suchen Sie.«
»Genau genommen will ich mir nichts weissagen lassen.« Hat Michael ihm wirklich nichts erzählt?, fragte sie sich auf einmal. »Ich habe im Nachlass meiner Tante ein Palmblatt gefunden, von dem ich annehme, dass es damals gestohlen wurde. Ich möchte es der entsprechenden Bibliothek gern wiedergeben.«
Jetzt war Singh für einen Moment sprachlos.
»Ein Palmblatt in England?«
»Ich hoffe, es ist nicht strafbar, dass ich es mitgebracht habe.«
»Nein, natürlich nicht«, gab Singh kopfschüttelnd zurück. »Ich dachte nur, die Reader passen darauf auf und geben keines dieser Blätter aus der Hand.«
»Das dachte Michael auch«, entgegnete Diana. »Doch es lag in einem Geheimfach hinter dem Buchregal. Ich vermute, dass es im 19. Jahrhundert nach England kam. Im Gepäck meiner Vorfahren, die eine Reise hierher unternommen hatten. Und, wie ich vor kurzem erfahren habe, hier auch eine Plantage besaßen.«
Singh sah sie mit leuchtenden Augen an. »Das klingt wahnsinnig interessant. Ich verstehe nicht, warum Michael mir das alles nicht schon vorher erzählt hat.«
»Er wollte Ihnen sicher nicht die Überraschung verderben«, gab Diana ein wenig unsicher zurück und schalt sich daraufhin dafür. Du bist eine gestandene Frau und kein schüchterner Backfisch!
Plötzlich blieb Singh stehen. »Sehen Sie mal dorthin!« Er deutete auf ein Haus, dessen Bauweise noch älter erschien als die der Häuser in der Chatham Street.
Diana runzelte die Stirn, als sie die Inschrift über der Tür entdeckte.
»Das ist Niederländisch, nicht wahr?«
»Ganz richtig. Übersetzt heißt es so viel wie ›Zerstört durch Willkür, wiedererrichtet durch Gerechtigkeit‹.«
»Und was bedeutet das?«
»Während der holländischen Kolonialzeit herrschte hier ein Gouverneur namens Pieter Vuist. Ihm wird nachgesagt, einer der schrecklichsten und grausamsten Herren des Landes gewesen zu sein. Aus einer Laune heraus, manche behaupten auch, aus Eifersucht, hat er dieses Haus einfach niederreißen lassen. Sein Amtsnachfolger, der ein wenig gemäßigter war, hat das Haus wieder aufbauen und die Inschrift einfügen lassen.«
Während er erzählte, kroch ein angenehmer Schauer über Dianas Nacken. Es war, als hätte die kalte Hand der Vergangenheit sie gestreift und lockte sie nun, ihr zu folgen. An der Seite von Jonathan Sing konnte sie das offenbar ungestraft tun.
Die kleine Teestube in der York Street wirkte, als sei sie zwischen zwei Geschäfte gequetscht worden. Wahrscheinlicher war allerdings, dass die anderen Gebäude ihren bescheidenen und alten Nachbarn mit der Zeit überragt und eingepfercht hatten.
Der in einem kräftigen Rostrot gestrichene Innenraum war eng und mit allerlei Kunstgegenständen zugestellt. Indische Musik dudelte aus einem Radio, irgendwo liefen Nachrichten in einem Fernseher. Die üblichen Darstellungen von Shiva, Ganesha und anderen Göttern fehlten, dafür entdeckte Diana eine wunderschöne arabische Kalligrafie, die offenbar schon mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hatte.
»Der Besitzer ist Muslim«, erklärte Singh, als sie sich auf eines der Kissen niederließen. »Jedem, der es hören will, erzählt er stolz, dass seine Vorfahren aus dem Jemen gekommen seien, um die Lehre Mohammeds hier zu verbreiten. Das ist ihnen auch teilweise gelungen, doch noch immer sind Hinduismus und Buddhismus vorherrschend auf der Schmetterlingsinsel.«
»Schmetterlingsinsel?«
»Ja, so wird Sri Lanka genannt. Weil sie die Form eines Schmetterlingsflügels hat.« Er unterstrich seine Worte mit einer passenden Handbewegung.
»Wieder was dazugelernt«, stellte
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