Die Schnapsstadt
quälenden Kopfschmerzen nahmen ihm jede Lust, die Unterhaltung fortzusetzen. Er streckte die Hand aus und strich ihr versöhnlich über das Gesicht. Dann legte er einen Arm um ihre Schulter. Wie eine Krankenschwester dem Verwundeten auf dem Schlachtfeld half sie ihm über die Eselsgasse. Plötzlich öffneten sich ein Paar Augen: die Scheinwerfer einer eleganten Limousine. Geräuschlos gleitend legte der Wagen von der Bordsteinkante ab, und die Lichtkegel der Scheinwerfer richteten sich genau auf die beiden. Mord lag in der Luft – das spürte er. Er stieß die Lastwagenfahrerin beiseite. Aber sie sprang wieder zurück und umschlang ihn mit den Armen. Doch in dieser Nacht sollte kein Mord geschehen: Sobald die Limousine die Fahrbahnmitte erreicht hatte, rollte sie in weitem Bogen an den beiden vorbei. Die weißen Auspuffgase boten im Schein der roten Rücklichter einen wunderbaren Anblick.
Sie waren vor Yichis Taverne angelangt. Das Lokal war hell erleuchtet, als finde drinnen ein Fest statt.
An der Eingangstür standen zwei Kellnerinnen, von denen keine größer als einen Meter war. Sie trugen identische rote Uniformen und die gleiche Hochfrisur, hatten nahezu identische Gesichter und trugen das gleiche eingefrorene Lächeln auf den Lippen. Dem Ermittler kamen die Zwillinge irgendwie künstlich vor. Sie sahen aus wie Schaufensterpuppen aus Kunststoff oder Gips. Die Blumen, die zwischen ihnen standen, waren so perfekt arrangiert, dass auch sie in ihrer leblosen Vollkommenheit künstlich wirkten.
Sie sagten:
«Willkommen in unserem Hause.»
Die teefarbene Glastür sprang auf, und im Spiegel einer Kristallsäule in der Mitte des Raums erblickte er einen hässlichen alten Mann, der sich auf eine schmutzige Frau stützte. Als ihm klar wurde, dass es sich um das Spiegelbild seiner selbst und der Lastwagenfahrerin handelte, verließ ihn alle Hoffnung. Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, als ein kleiner Junge in Rot sich ihnen mit erstaunlicher Geschwindigkeit näherte und mit blecherner Stimme krähte:
«Mein Herr, gnädige Frau, wollen sie speisen oder nur Tee trinken? Tanz oder Karaoke?»
Der Kopf des kleinen Kerls reichte dem Ermittler gerade bis ans Knie, und wenn sie sich unterhalten wollten, musste der eine den Kopf in den Nacken legen, und der andere musste sich tief hinunterbeugen. So sahen einander zwei Köpfe – ein großer und ein kleiner – ins Gesicht, wobei der Ermittler die beherrschende Stellung einnahm, was sehr dazu beitrug, seine Laune zu verbessern. Er erschrak vor dem Ausdruck abgrundtiefer Bosheit im Gesicht des Knaben, einer Bosheit, die auch das freundliche Lächeln nicht bemänteln konnte, das Gaststättenpersonal gelernt hat zur Schau zu tragen. Bosheit von diesem Ausmaß lässt sich ebenso wenig verbergen wie Tinte, die in Toilettenpapier einzieht.
Die Lastwagenfahrerin sagte:
«Wir wollen etwas trinken, und wir wollen essen. Ich bin eine Freundin von Generaldirektor Yu Yichi.»
Der kleine Kerl verbeugte sich tief.
«Ich kenne Sie, gnädige Frau», sagte er. «Wir haben einen privaten Speiseraum im ersten Stock.»
Der kleine Kerl wies ihnen den Weg, und dem Ermittler fiel auf, wie sehr dieser Gnom einem der Dämonen in dem klassischen Roman Die Reise in den Westen von Wu Cheng'en glich. Er konnte sich sogar vorstellen, dass sich im Schritt seiner weit geschnittenen Hosen der Schwanz eines Fuchses oder eines Wolfs verbarg. Auf dem polierten Marmorboden sahen ihre schlammbedeckten Schuhe besonders schmutzig aus, und der Ermittler gab sich wieder seinen Minderwertigkeitskomplexen hin. Auf der Tanzfläche tanzten prächtig geschmückte Frauen Wange an Wange mit Männern, deren Gesichter vor Gesundheit und Glück strahlten. Ein Zwerg in Frack und weißer Fliege, der auf einem hohen Barhocker saß, spielte Klavier.
Sie folgten dem kleinen Kerl die Wendeltreppe hoch in einen privaten Speiseraum, wo zwei winzige Kellnerinnen mit Speisekarten auf sie zuliefen. Die Lastwagenfahrerin sagte:
«Bitten Sie Generaldirektor Yu herauf. Sagen Sie ihm, Nummer Neun sei da.»
Während sie auf Yu Yichi warteten, stellte die Lastwagenfahrerin ihre schlechten Manieren unter Beweis, indem sie sich die Schuhe auszog und ihre schlammverkrusteten Füße auf dem weichen Teppich abwischte. Dann musste sie wegen der schlechten Luft mehrmals laut niesen. Als ihr das Niesen einmal in der Nase stecken blieb, blickte sie zur Lampe auf, schielte und verzog den Mund, um nachzuhelfen. Das Gesicht, das sie
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