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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Ekel erregend stinkenden Mund und dachte dabei an den Mund ihrer Mutter, der immer nach gegrilltem Fleisch duftete. Nichts konnte so köstlich schmecken wie ein Schlückchen Cognac und ein Kuss meiner Schwiegermutter: als spüle man köstliches Fleisch mit gutem Cognac hinunter. Seltsamerweise hatte das Alter der jugendlichen Anziehungskraft eines Mundes nichts anhaben können, der auch ohne Lippenstift feucht und rot war und nach süßem Traubensaft von den Bergen schmeckte. Dagegen waren die Lippen ihrer Tochter nicht einmal den Schalen dieser Trauben ebenbürtig.
    Mit schwacher, zitternder Stimme sagte sie: «Mir kannst du nichts vormachen. Ich weiß, dass du meine Mutter liebst und nicht mich. Du hast mich nur geheiratet, weil du dich in sie verliebt hattest. Wenn du mich küsst, denkst du an die Lippen meiner Mutter. Wenn du mich liebst, denkst du an den Körper meiner Mutter.»
    Ihre Worte waren scharf wie ein Rasiermesser, als wolle sie mich bei lebendigem Leibe häuten. Trotzdem strich ich ihr vorsichtig über die Wange und sagte mit ärgerlich verzogenem Gesicht:
    «Wenn du weiter so einen Unsinn redest, hau ich dir eine runter. Du phantasierst! Du halluzinierst! Die Leute würden dich auslachen, wenn sie dich sehen könnten. Und deine Mutter würde vor Wut in die Luft gehen, wenn sie wüsste, was du da sagst. Ich bin Doktorand der Alkoholkunde, ein würdiger, beeindruckender Mann, ein Mann wie nur wenige. Du magst mich ja für schamlos halten, aber ich würde nicht einmal davon träumen, etwas zu tun, wozu sich nicht einmal ein Tier herablassen würde.»
    Sie sagte: «Mag sein, dass du es nie getan hast. Aber du würdest es gerne tun. Vielleicht wirst du es ein Leben lang nicht tun, aber du wirst die ganze Zeit daran denken. Wenn du es tags nicht tun willst, willst du es im Traum tun. Wenn du es im Leben nicht tun willst, wirst du es nach deinem Tod tun wollen.»
    Ich stand auf und sagte: «Du beleidigst mich, deine Mutter und dich selbst.»
    Sie sagte: «Reg dich bloß nicht auf! Und wenn du hundert Münder hättest und wenn diese hundert Münder alle gleichzeitig süße Worte von sich gäben, würdest du es nicht schaffen, mich hinters Licht zu führen. Aber ach, was soll es? Ich bin nichts als ein Klotz an deinem Bein. Mein Leben ist die Verachtung anderer. Ich bin zu nichts fähig als zum Leiden. Warum sterbe ich nicht einfach? Das würde alle Probleme lösen … Wenn ich erst einmal tot bin, könnt ihr beide tun, was ihr wollt.»
    Sie schlug sich mit den pummeligen kleine Händen, die ein wenig wie Eselshufe aussahen, an die eigene Brust. Wenn sie auf dem Rücken lag, waren alles, was man auf ihrer eingefallenen Brust zu sehen bekam, zwei Brustwarzen wie schwarze Datteln. Dagegen waren die Brüste meiner Schwiegermutter so voll und üppig wie die einer jungen Frau. Nichts warf Falten, nichts hing herab. Selbst wenn sie einen dicken Wollpullover trug, ragten sie wie mächtige Berge empor. Der Gegensatz der Brüste von Frau und Schwiegermutter hatte den Schwiegersohn an den Abgrund des Verderbens getrieben. Ich rastete aus und fing an zu schreien: «Wie kannst du mir Vorwürfe machen?»
    «Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich mache mir selbst Vorwürfe.» Sie öffnete die geballten Fäuste und fing an, mit ihren Klauen ihre Kleider zu zerreißen. Die Knöpfe sprangen ab, und ihr Büstenhalter wurde sichtbar. Mein Gott! Wie jemand, der keine Füße hat und trotzdem Schuhe trägt! Sie trug tatsächlich einen Büstenhalter! Beim Anblick ihrer eingefallenen Brüste musste ich mich abwenden.
    Ich sagte: «Jetzt reicht's! Hör mit diesem Blödsinn auf. Selbst wenn du stirbst, gibt es ja immer noch deinen Vater.»
    Sie richtete sich halb auf. Ein erschreckendes Licht strahlte in ihren Augen.
    «Mein Vater ist doch für Leute wie dich nur ein Hampelmann. Er interessiert sich für nichts als Schnaps, Schnaps und wieder Schnaps. Die einzige Frau, die er liebt, ist der Schnaps. Wenn mein Vater normal wäre, was hätte ich dann für Sorgen?»
    «Ich habe noch nie eine Tochter wie dich erlebt», sagte ich hilflos.
    «Deshalb bitte ich dich ja, mich zu töten.» Sie kniete auf allen vieren vor mir, schlug den knochenharten Kopf auf den Betonfußboden und sagte: «Ich flehe dich auf Knien an. Ich schlage mit dem Kopf auf den Boden und bitte dich. Bitte, Herr Doktorand der Alkoholkunde, töte mich! In der Küche findest du ein funkelnagelneues Edelstahlmesser. Es ist schärfer als ein Windhauch. Hol es und töte mich! Ich

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