Die Schnelligkeit der Schnecke
arbeiten, auch die Toten und Verletzten mitgeschleppt. Die aber, nachdem sie erst mit fünfundzwanzig angefangen haben, nach dem Examen achtundzwanzig sind und nach dem Doktorat dreißig oder zweiunddreißig. Und in dem Alter nimmt sie entweder die pharmazeutische Industrie als Versuchskaninchen, oder man hat sie ewig am Hals, weil einen zweiunddreißigjährigen Studienabgänger, vielleicht noch mit Doktortitel, will die Industrie heutzutage nicht mal geschenkt haben. Ich weiß Bescheid. Ich bin einer von denen.«
»In welchem Sinn?«, fragte Snijders, der in der Zwischenzeit seine Focaccia aufgegessen hatte. In knapp dreißig Sekunden, ungefähr. Schauderhaft.
Massimo schnaubte kurz und lächelte. Wenn du wüsstest.
»Das ist eine längere Geschichte.«
»Es dauert, so lange es dauert«, antwortete Snijders. »Ich muss noch verdauen.«
Das glaube ich wohl. Na gut, wenn das so ist ...
Massimo erzählte nur eher ungern davon, wie er vom Computerbildschirm hinter den Bartresen geraten war. In erster Linie, weil er nicht glaubte, dass sein Leben andere Leute besonders interessieren würde. In zweiter Linie, weil er nicht sicher war, ob er in der Geschichte eine so vorteilhafte Figur machte.
»Ich habe nach vier Jahren mein Examen in Mathematik gemacht. Ganz genau. Im November des vierten Jahres. Und im Januar des folgenden Jahres habe ich das Doktorat angefangen. Mein Thema, na ja, ich weiß nicht, wie sehr Sie das interessiert. Jedenfalls ging es um die Stringtheorie.«
Snijders zog die Augenbrauen hoch. »Davon verstehe ich überhaupt nichts.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, da sind Sie in guter Gesellschaft. Das meine ich ernst. Das Thema, mit dem ich mich beschäftigen sollte, war extrem kompliziert, zu Beginn des Doktorates hatte ich zunehmend das Gefühl, in einem Albtraum zu versinken. Je mehr ich mich damit befasste, desto weniger verstand ich. Manchmal hatte ich das Gefühl, etwas begriffen zu haben, dann fand ich unmittelbar danach einen Artikel, der diese Überzeugung wieder zerstörte. Das Schlimmste an der ganzen Geschichte war, dass ich den Eindruck hatte, auch mein Doktorvater, der seinerseits übrigens Phyisker war, erfasse nicht wirklich viel von dem, was ich da machte. Damit wir uns richtig verstehen, das wäre auch vollkommen verständlich gewesen. Er war schon etwas älter und das Spezialthema war ziemlich neu und wirklich verzwickt. Aber nach einer gewissen Zeit begannen mich Zweifel zu drücken. Also bin ich eines Tages mit einem Packen Aufsätze und einer Seite voller Fragen zu ihm gegangen. Um es kurz zu machen, mir ist klar geworden, dass nicht mal er einen Funken davon verstand. Schlimmer noch, die Zweifel, die mir gekommen waren, hatten ihn nicht einmal ansatzweise gestreift. Ich war der Person, die mich eigentlich anleiten sollte, weit voraus, und gleichzeitig tappte ich völlig im Dunkeln. Als ich dann aus seinem Büro kam, habe ich mich im Spiegel betrachtet. Wissen Sie, was die wichtigste Eigenschaft eines Mathematiker ist?«
»Weiß nicht. Intelligenz vielleicht?«
»Nein. Die ist wichtig, aber nicht allein. Nein, die grundlegende Eigenschaft, die man als Mathematiker haben muss, ist Demut. Demut, um zu erkennen, wann du überhaupt nichts verstanden hast, und um nicht in Versuchung zu geraten, dich selbst zu betrügen. Wenn du etwas nicht verstanden hast oder dir nicht ganz sicher bist, dann kannst du nicht einfach so weitermachen. Das wird dir nur schlecht bekommen. Du musst absolut ehrlich zu dir selbst sein. Gut, was also die Mathematik anging, habe ich immer versucht, ehrlich zu mir zu sein. Und so kam ich zu dem unausweichlichen Schluss: Ich war nicht gut genug. Ich war nicht geeignet für diese Arbeit. Sie überstieg meine Fähigkeiten. Wenn ich weitergemacht hätte, hätte ich Zeit verloren und mir selbst etwas vorgemacht.«
Snijders blickte ihn an und zeigte mit dem Finger auf die Bar. »Und daher ...«
»Ganz genau. Sehen Sie, ich bin ein kleinlicher Mensch. Alles muss so gemacht werden, wie ich es sage, also gut, sonst ärgert es mich. Wenn ich etwas gut mache, bin ich mit mir selbst zufrieden, ganz egal, was es ist. Damals bin ich in den Besitz einer hübschen Summe Geld gekommen. Keine Reichtümer, aber genug, um eine Bar aufzumachen. Also habe ich mir überlegt, dass ich das Leben der Karriere vorziehen wollte, und mich entschlossen, lieber ein sehr guter Barista zu werden als ein frustrierter Mathematiker.«
»Und bereuen Sie das denn nicht? Kommt es Ihnen
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