Die Schöne des Herrn (German Edition)
Kassierer zu, ein anderer alter Bekannter, ein langer hagerer Asket und Vegetarier mit Christusbart, den Tantlérie sehr geschätzt hatte, weil er an die buchstäbliche Eingebung der Bibel glaubte. Er hatte gerade eine alte Kundin abgefertigt, die wie ein ekzematöser Pekinese aussah und nun, die Hand tragisch auf dem Verschluss ihrer Handtasche, hinausging, rückte seine Krawatte zurecht, um der d’Aubleschen Hinterlassenschaft die gebührende Ehre zu erweisen, und grüßte mit freundlichem Blick.
»Wie viel kann ich in bar von meinem Konto abheben, Monsieur?«
»Falls ich mich nicht irre, etwa sechstausend Franken, Madame«, antwortete der brave Mann, der übrigens die Kontostände der guten Gesellschaft auswendig kannte.
»Ich brauche aber mehr«, sagte sie und lächelte. (Warum lächelte Ariane so viel in diesen beiden Banken? Weil sie sich in Banken, bezaubernden Orten, wo man stets so gut empfangen wurde, wohlfühlte. Bankiers waren überaus nette Leute, immer hilfsbereit, immer gewillt, einem so viel Geld zu geben, wie man wollte. Für Ariane, geborene d’Auble, war das Geld die einzige Ware, die man gratis erhalten konnte. Man brauchte nur zu unterschreiben.)
Der Kassierer blickte betrübt über seine Brillengläser. Abgesehen davon, dass es immer traurig war, wenn eine Kundin ihn um eine Summe bat, die ihre »Einkünfte« überstieg, fürchtete er jetzt, diese seltsame Nichte könne von ihm verlangen, Aktien verkaufen zu lassen. Er hasste es, Verkaufsaufträge zu erhalten, besonders wenn sie von jungen und unerfahrenen Kundinnen kamen. Dieser kleine Angestellte mit seinem bescheidenen Gehalt, voller Ticks und Skrupel, hatte eine merkwürdige Schwäche für die Erbinnen unter den Kunden der Bank, wünschte ihnen wachsenden Wohlstand und Reichtum und grämte sich, wenn er eine auf dem Abstieg sah. Dieser magere Wachhund, der sich mit seiner Bedeutungslosigkeit abgefunden hatte, liebte es, auf den Reichtum der Reichen aufzupassen. So fragte er dieses leichtsinnige, jedoch aus ehrbarer Familie stammende Wesen, ob es ihr nicht möglich sei, bis zu den großen Eingängen im Oktober zu warten. Dann habe sie nämlich über zehntausend Franken, fügte er in warmherzigem Ton hinzu.
»Ich brauche aber mehr«, sagte sie lächelnd. »Und außerdem kann ich nicht warten.« (Der sanfte Kassierer hob die müden Schultern.)
»In diesem Fall müssen Sie einen Pfandvertrag unterschreiben oder einen Verkaufsauftrag.« (Das Wort »Pfandvertrag« missfiel der jungen Frau. Das musste eine komplizierte Geschichte sein, mit Notar und so weiter.)
»Ich würde lieber verkaufen lassen«, sagte sie mit bezauberndem Lächeln.
»Für wie viel, Madame?«
Um Zeit zu gewinnen, fragte sie, wie viel ihre Papiere in (sie zögerte, denn bei den Aubles liebte man es nicht, dieses unanständige und doch heilige Wort auszusprechen) Geld wert seien. Der Kassierer entfernte sich mit betrübten Schritten und kam dann in Gesellschaft des jungen Chefs der Wertpapierabteilung, eines braungebrannten und dynamischen Herrn, zurück, der ihr etwas weniger devot als sonst seine Aufwartung machte.
»Was Sie in Ihrem Wertpapier-Portefeuille haben, beläuft sich ungefähr auf, auf, auf … (Er öffnete die Akte und überflog den Inhalt, während sie sich fragte, was dieses Portefeuille, von dem sie noch nie gehört hatte, wohl bedeuten könnte. Wahrscheinlich legten diese Herren die Wertpapiere der Kunden in schöne große Portefeuilles aus Leder. Sie müsste einmal den netten Kassierer bitten, es ihr zu zeigen.) beläuft sich, beläuft sich auf mehr oder weniger zweihunderttausend Franken.«
»Ich dachte, es sei mehr da«, sagte sie schüchtern. »Wenigstens ein bisschen mehr.«
»Aber Madame, in der Hinterlassenschaft von Mademoiselle d’Auble befanden sich eine Menge französischer Wertpapiere, und sogar österreichische und südamerikanische. (Die beiden letzten Adjektive sprach er mit einem gewissen Ekel aus.) Und außerdem ist der Dow Jones Index in den letzten Tagen erheblich gefallen.«
»Ach so«, sagte sie.
»Ja, zweihunderttausend Franken, grob gerechnet, denn die Kurse schwanken im Augenblick stark.«
»Gewiss«, sagte sie.
»Soll alles verkauft werden?« (Der Kassierer schloss die Augen.)
»O nein, das nun gerade nicht.«
»Die Hälfte?«, fragte der Mann der Tat. (Was für eine respektlose Generation, dachte der Kassierer.)
Sie überlegte. Es wäre nicht schlecht, über einen größeren Betrag zu verfügen, um nicht immer
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