Die Schöne des Herrn (German Edition)
trage diese Jacke in tadelloser Ausführung. Und sie fand in aller Unparteilichkeit, dass es so wirklich viel besser sei.
»Anderthalb Zentimeter kürzer wäre perfekt«, sagte sie. (Siegesbewusst atmete sie tief und endgültig überzeugt ein. Anderthalb Zentimeter, das war die Vollkommenheit, eine Dimension Gottes.) »Also nicht zwei Zentimeter, nicht wahr? (Stirnrunzeln, gesenkter Kopf, Nachdenken, Ängste.) Meinen Sie nicht, dass vielleicht auch ein Zentimeter genügte? Nein, nein, bleiben wir bei anderthalb Zentimetern.«
»Unbedingt«, sagte Volkmaar mit einer Verbeugung, fest entschlossen, die Jacke zwei Zentimeter länger zu machen. »Meine Empfehlung, liebe gnädige Frau.«
In die Konditorei traute sie sich nicht zurück, wegen der umgestoßenen Tasse, und sie ging in ein Café. Nach einem Schluck Tee seufzte sie auf, denn eine neue Sorge bedrängte sie. Das Schweinchen hatte nichts aufgeschrieben. Er würde bestimmt vergessen, was beschlossen worden war. Dieser gewissenlose Schweinehund. Sie bat um Stift und Papier und fasste die abgemachten Änderungen zusammen. Im Postskriptum fügte sie hinzu:
»Wie besprochen, die beiden Cambridgejacken unten ganz, ganz leicht abgerundet. Sozusagen im rechten Winkel, allerdings an der Spitze eine Winzigkeit abgerundet. Aber ich verlasse mich ganz auf Sie, falls Sie es für besser halten, im Gegenteil stärker abzurunden. In diesem Fall die obige Skizze nicht beachten.«
Doch dieser Brief würde zu spät kommen, wenn sie ihn mit der Post schickte. Also Mut und ihn dem Kerl persönlich bringen. Nur war es weiß Gott kein Spaß, ihm schon wieder vor die Schweinsäuglein zu treten. Also die Niederlage hinnehmen? Sie eilte zurück, stürmte in den Laden, sagte dem Couturier, sie habe ihm alles noch einmal kurz notiert, damit es keine Missverständnisse gebe, reichte ihm den Zettel und eilte wieder hinaus. Draußen fühlte sie sich in Sicherheit und machte eine leicht anstößige Schulmädchengrimasse, um ihre Scham zu vertreiben und ihre Angst loszuwerden und endgültig das Gefühl zu haben, nun habe sie alles getan. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt. Jetzt war es an dem Kerl, sich zurechtzufinden. Er hatte ja ihre Notiz.
Eine Stunde später stand sie jedoch über einen Tisch auf der Post in der Rue du Stand gebeugt und schrieb an Volkmaar, er möchte die beiden Cambridgejacken doch nicht kürzer machen, sondern in der Länge des Modells lassen.
LXII
»Donnerstag, den 23. August, 9 Uhr abends.
Ariane an den Geliebten, den ich wahrhaft liebe.
Geliebter, dieser Brief ist überflüssig, da Sie ihn erst bei Ihrer Ankunft im Ritz lesen werden, wo ich ihn morgen früh für Sie hinterlege. Aber ich muss etwas für Sie tun, muss bei Ihnen sein. Ganz unnütz ist der Brief allerdings auch wieder nicht, denn so werde ich übermorgen sozusagen im Ritz sein, um Sie willkommen zu heißen. Ich hätte Sie gern am Bahnhof erwartet, aber ich weiß, dass Sie das nicht mögen.
Ich schreibe Ihnen in meinem Reich, einem kleinen Pavillon am Ende des Gartens hinter der Villa, der für den Gärtner der vorherigen Mieter bestimmt war. Ich habe ihn zum Ort meiner Träume gemacht, und niemand darf ihn betreten. Ich werde ihn Ihnen zeigen und hoffe, dass er Ihnen gefallen wird. Der Fußboden schimmelt und ist kaputt, von der Decke blättert der Kalk, und die Tapeten haben sich von den Wänden gelöst. Dort fühle ich mich wohl. Fast überall hängen Spinnweben, aber ich lasse sie, weil ich die Spinnen liebe und es nicht übers Herz bringen würde, ihre zarte Arbeit zu zerstören. Auch mein liebes Schulmädchenpult steht da, und auf ihm schreibe ich Ihnen jetzt. Ich weiß nicht, ob man Pult sagt, vielleicht sollte man besser Tisch sagen. Es ist ein Ensemble, der Tisch mit der schrägen Platte und die Bank mit Rückenlehne bilden ein Ganzes, verstehen Sie, was ich meine?
Auf diesem Tisch habe ich in Gesellschaft meiner Schwester Éliane meine Hausaufgaben gemacht. Zwei kleine Mädchen mit roten Pantoffeln und ebensolchen Kleidchen. Gelächter, Spiele, Verkleidungen auf dem Dachboden, Zänkereien, große empörte Reden, du bist gemein, mit dir rede ich nicht mehr, und dann die Versöhnungen, bist du mir böse, Éliane? Das Lied, das ich erfunden habe und das die beiden kleinen Mädchen, neun und zehn, sich an den Händen haltend, im Winter jeden Morgen auf dem Schulweg traurig gesungen haben. Von diesem Lied habe ich Ihnen schon erzählt, glaube ich. Ach, es sind ja nur wenige Worte. In dieser
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