Die Schöne des Herrn (German Edition)
Nacht« zugerufen. »Schlaf gut, Liebling, gute Nacht, gute Nacht, schlaf gut, bis morgen.« Das waren Rufe der Liebe gewesen. Und wenn es im Radio eine schöne Musik gegeben hatte, hatte er sie schnell gerufen, er hatte sich nichts Schönes anhören können, wenn sie nicht dabei gewesen war und es mit ihm geteilt hatte. Er stand wieder auf. Die Smokinghose war ihm bis zu den Knöcheln hinuntergerutscht, er watschelte zum Waschtischspiegel, betrachtete sich und lächelte sich zu. Das also war die Verzweiflung, dieses einsame Lächeln in einem Spiegel.
»Was soll ich tun?«, fragte er den Spiegel.
Während der Schulzeit hatte er so fleißig gelernt, bis elf, bis Mitternacht über seinen Hausaufgaben gesessen. »Geh zu Bett, Didi, es ist spät«, hatte Mammi gesagt. Aber er wollte der Erste sein, den besten Aufsatz schreiben, und er knipste das Licht wieder an, wenn sie gegangen war, und am Morgen stand er um fünf Uhr auf, um seinen Aufsatz noch einmal durchzulesen. Wozu? Seine Freude, bei Schulbeginn im Oktober ganz neue Schulhefte zu beginnen. Und mit welchem Fleiß, mit welcher Liebe hatte er das Fach und seinen Namen auf das Etikett geschrieben. Wozu? Herstal, Belgique. Einmal beim
morning tea
hatte sie ihm einfach so zugezwinkert, aus Freundschaft, um ihm zu sagen, dass sie sich gut verstanden. Er zwinkerte sich im Spiegel zu. Seine Augenlider lebten, gehorchten ihm.
Wieder auf den Sitz zurückgekehrt, entsicherte er die Browning, sicherte sie wieder, fuhr sich mit den Fingern durch das verschwitzte Haar, betrachtete seine Finger und wischte sie an der Pyjamajacke ab. Er hatte Angst. Schweißtropfen liefen an seinem Bart entlang und trafen sich unter dem Kinn. Er hatte Angst. Abermals entsicherte er. Selbst um zu sterben, musste man eine Geste des Lebens ausführen, auf den Abzug drücken. Der Zeigefinger, der auf den Abzug drückte, der sich noch einmal bewegte, um sich dann nie wieder zu bewegen. Ja, alles hing davon ab, ob der Zeigefinger drücken wollte. Aber er, nein, er war noch jung, er hatte doch noch das ganze Leben vor sich. Bald Rat und dann Abteilungsleiter. Morgen den Bericht diktieren. Jetzt aufstehen, ein Taxi rufen, und dann ins Donon. Ja, ins Donon.
Aber ihn zuerst noch ein bisschen an die Schläfe halten, nur um zu sehen, wie es wäre, wenn man sich entschließen würde. Aber er, nein, so dumm war er nicht, er war jung, er hatte das ganze Leben vor sich. Er wollte ja nur mal sehen. Nur einmal die Geste machen, um zu sehen, wie es ist, um zu sehen, wie man es machte. Ja, so machte man es also, den Lauf an die Schläfe. Aber er, nein, sein Zeigefinger würde nicht wollen. Er wollte ja nur mal sehen. Er? Nein, nein, das kam für ihn nicht in Frage, so dumm war er nicht. Gut geschlafen, ausgeruht? Einmal hatte sie ihm zugezwinkert.
Sie zwinkerte ihm zu, und sein Zeigefinger wollte. »Geh schlafen, es ist spät«, flüsterte ihm eine Stimme ins Ohr, während er langsam nach vorne sank. Die Stirn auf dem Schemel, zwischen den Pfoten des Teddybären, betrat er das warme Zimmer seiner Kindheit.
FÜNFTER TEIL
LXXXI
In diesem Hotel in Agay wollten sie nur füreinander da sein, alles vom anderen wissen, dem anderen von sich erzählen zwischen ihren erschreckend häufigen Vereinigungen. Sich gleichende Nächte, wohltuende Ermattung, bezaubernde Verschnaufpausen, und sie ließ zärtlich die Finger über die nackte Schulter des Geliebten gleiten, um ihm zu danken oder ihn zu bezaubern, und er schloss die Augen, vor Wonne lächelnd. Engumschlungen ruhten sie sich von ihren wichtigen Tätigkeiten aus, schliefen ein nach zärtlichem Geflüster und Kommentaren und tauchten aus dem Schlummer auf, um ihre Lippen zu vereinen, sich enger aneinanderzuschmiegen, sich wirr und noch halb schlafend zu vereinen, oder sich atemlos und plötzlich wieder hellwach zu suchen. Und dann erneut der süße symbiotische Schlaf. Wie konnte man nur ohne einander schlafen?
Im Morgengrauen verließ er sie ganz behutsam, besorgt, sie nicht zu wecken, und ging in sein Zimmer. Manchmal öffnete sie die Augen und protestierte. »Verlass mich nicht«, seufzte sie. Doch er entwand sich den Armen, die ihn vage zurückhielten, beruhigte sie, sagte ihr, er käme bald zurück. Er verließ sie im Morgengrauen, weil er nicht wollte, dass sie ihn weniger perfekt, unrasiert und ungewaschen sähe. Aber auch weil er Angst hatte, wenn sie ins Badezimmer ginge, das dem Bad vorausgehende erschreckende Getöse der Klosettspülung zu hören,
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