Die Schöne des Herrn (German Edition)
hatte, während der andere körperreicher war. Aber die Seelen und die Ohren waren anderswo. »Ja«, probte Frau Deume innerlich den Bericht, den sie am nächsten Montag ihren Freundinnen in der Nähstunde für die Bekehrten aus Sambesi geben würde, »neulich Abend sind wir sehr lange aufgeblieben, oh, es war ein kleiner intimer Abend, ganz unter uns, nur der Untergeneralsekretär des Völkerbundes und wir. Ein echtes intellektuelles Vergnügen. Er ist ein charmanter Mensch, sehr herzlich und sehr natürlich, na ja, uns gegenüber war er jedenfalls sehr natürlich.«
Es schlug zehn, sowohl von der Neuenburger Wanduhr als auch von den drei anderen Wanduhren im Haus, die Herr Deume stets aufs genaueste stellte. Adrien erhob sich, und sein Adoptivvater tat es ihm nach. Eine feierliche Minute. Die Herrin des Hauses strich sich über den Hals, um sich des tadellosen Sitzes ihres Samthalsbandes zu vergewissern, nahm sodann eine vornehme Wartestellung ein und lächelte mit dem oben erwähnten schmerzlichen Ausdruck, die schiefen Schneidezähne deutlich sichtbar.
»Sstehst du nicht auf, Ssatz?«
»Die Dame bleibt sitzen, wenn sie einen Herrn empfängt«, erwiderte der Ssatz mit wissend gesenktem Blick.
Adrien hatte sich noch einmal den Kinnbart gekämmt und fand plötzlich, es sähe vielleicht doch besser aus, wenn er die am Vortag gekauften Luxusexemplare geometrisch exakt anordnen würde. Aber dann stellte er sie doch wieder kunterbunt durcheinander, das sah einfach besser aus, wirkte intellektueller. Frau Deume zuckte zusammen, und ihre Fleischkugel schaukelte hin und her, ein allerliebster Anhänger.
»Was war das?«, fragte sie.
»Nichts«, erwiderte Herr Deume.
»Ich dachte, ich hätte ein Auto gehört.«
»Das ist der Wind«, sagte Adrien.
Herr Deume öffnete das Fenster. Nein, kein Auto.
Um zehn Uhr zehn wurde erklärt, das argentinische Diner habe wahrscheinlich mit Verspätung begonnen, was konnte man bei diesen Südamerikanern auch anderes erwarten. Und vielleicht hatte der Untergeneralsekretär ja auch irgendein wichtiges Gespräch mit diesen Herren begonnen, wie es bei Kaffee und Zigarren Usus war. »Er konnte schließlich nicht alles stehen und liegen lassen, vielleicht sollte gerade ein wichtiger Entschluss gefasst werden«, sagte Frau Deume. »Natürlich«, bestätigte Herr Deume.
Um zehn Uhr zwölf erschien Ariane in ihrem schwarzen Kreppkleid. Nachdem sie sich lächelnd umgeblickt hatte, fragte sie mit unschuldig flatternden Lidern, ob man den Herrn Untergeneralsekretär erwarte. Das sehe sie doch, erwiderte Adrien, wobei er die Kiefermuskeln anspannte, um seinem Gesicht den Ausdruck unbezähmbarer Energie zu verleihen. Es habe ein kleines Missverständnis gegeben, erklärte Herr Deume. »Und wann kommt der Herr Untergeneralsekretär nun?«, fragte sie, sorgfältig die Silben des langen Titels trennend. »Etwa um zehn Uhr«, antwortete Frau Deume schroff.
»Ich werde mit euch warten«, sagte Ariane freundlich.
Sie setzte sich. Dann verschränkte sie die Arme und sagte, es sei ein bisschen kalt in diesem Salon. Dann schlug sie die Beine übereinander. Dann stand sie auf, entschuldigte sich und sagte, sie wolle sich einen Pelz holen. Als sie mit ihrem Nerzmantel über den Schultern zurückkam, setzte sie sich wieder friedlich hin und schlug die Augen nieder. Dann seufzte sie. Dann verschränkte sie brav wie ein Engel erneut die Arme. Dann ließ sie die Arme wieder hängen und gähnte höflich.
»Wenn Sie erschöpft sind, gehen Sie sich ausruhen«, sagte Frau Deume.
»Vielen Dank, Madame. Ich muss gestehen, dass das Warten hier in der Kälte mich ein wenig anstrengt, und außerdem bin ich müde. Also gute Nacht, Madame«, sagte sie lächelnd. »Gute Nacht, Papeli, gute Nacht, Adrien. Ich hoffe, dieser Herr kommt bald.«
Um zehn Uhr siebenundzwanzig stellte Adrien seine Luxusausgaben wieder fein aufgereiht in den Schrank und bemerkte, der Wind sei stärker geworden. Herr Deume fügte hinzu, seiner Meinung nach sei ein Gewitter im Anzug, es sei deutlich kühler geworden, und es wäre vielleicht eine gute Idee, ein kleines Feuer im Kamin zu machen. Frau Deume sagte, sie hätten kein Holz mehr im Keller, und außerdem, ein Kaminfeuer an einem ersten Juni, nein wirklich! Um zehn Uhr dreißig verkündete sie, sie habe Rückenschmerzen. »Psst, ein Auto!«, rief Herr Deume. Aber die Autos hielten nie vor der Villa. Um zehn Uhr zweiunddreißig erschallte eine wilde Marseillaise auf dem Klavier im
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