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Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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bleiben!«
    »Darf ich dir vorstellen: der heilige Markus, mein Neffe«, sagte Vandoosler lächelnd. »Aus dem Nichts schreibt er das Evangelium neu.«
    Marc zuckte mit den Schultern, leerte sein Glas mit einem Zug und setzte es laut auf den Tisch.
    »Ich laß dir das letzte Wort, Onkel, weil du es ja so oder so haben willst.«
    Marc verließ den Raum und stieg die Treppe hinauf. Lucien folgte ihm leise und legte ihm auf dem Treppenabsatz die Hand auf die Schulter. Ausnahmsweise redete er einmal mit normaler Stimme.
    »Nur ruhig, Soldat«, sagte er. »Der Sieg ist unser.«

 
     
19
     
    Marc sah auf die Uhr, als Leguennec Vandooslers Dachgeschoß verließ. Es war zehn Minuten nach Mitternacht. Die beiden hatten Karten gespielt. Er konnte nicht einschlafen und hörte, wie Alexandra gegen drei Uhr morgens zurückkam. Er hatte alle Türen offengelassen, um Cyrille zu hören, falls er wach würde. Marc sagte sich, daß es nicht richtig sei, runterzugehen, um zu horchen. Er ging runter, um zu horchen, und lauschte aufmerksam von der siebten Treppenstufe aus. Die junge Frau ging leise umher, um niemanden zu wecken. Marc hörte, wie sie ein Glas Wasser trank. Genau das hatte er sich gedacht. Man rennt stur vor sich hin, verläuft sich voll Entschlossenheit im Unbekannten, trifft eine ganze Reihe ordentlicher, widersprüchlicher Entscheidungen, aber in Wirklichkeit läuft man nur im Kreis und kommt schließlich zurück.
    Marc setzte sich auf die siebte Stufe. Seine Gedanken schoben sich übereinander, knirschten und entfernten sich wieder voneinander. Wie die Platten der Erdkruste, die damit beschäftigt sind, auf dem glitschigen heißen Zeug darunter umherzurutschen. Auf dem schmelzflüssigen Mantel. Irre, diese Geschichte mit den Platten, die auf der Erdoberfläche in alle Richtungen flutschen. Unmöglich, sie an Ort und Stelle festzunageln. Plattentektonik, genau, so hieß das. Nun, bei ihm war es Gedankentektonik. Ewiges Hin- und Hergeschiebe und manchmal unvermeidlicherweise Gedränge. Mit den allbekannten Problemen. Wenn die Platten auseinanderdriften: Vulkaneruption. Wenn die Platten aneinanderstoßen: ebenfalls Vulkaneruption. Was war mit Alexandra Haufman los? Wie würden die Verhöre von Leguennec ablaufen, warum war Sophia in Maisons-Alfort verbrannt, hatte Alexandra diesen Typen, den Vater von Cyrille, geliebt? Sollte er sich auch an der rechten Hand Ringe anstecken? Wozu nützt ein Basaltstein beim Singen? Ach ja, der Basalt. Wenn die Platten auseinanderdriften, kommt Basalt heraus, und wenn die Platten sich überschneiden, dann entsteht was anderes. Nämlich... na...? Andesit. Genau, Andesit. Und warum der Unterschied? Schleierhaft, er konnte sich nicht mehr erinnern. Er hörte, wie Alexandra zu Bett ging. Und da saß er nun, weit nach drei Uhr morgens, auf einer Holzstufe und wartete, bis die Tektonik sich beruhigte. Warum hatte er den Paten so angebrüllt? Würde Juliette ihnen morgen wieder eine Île flottante zum Nachtisch machen, wie häufig freitags? Würde Relivaux auspacken, was seine Geliebte anging? Wer würde Sophia beerben, waren seine Überlegungen zum dörflichen Handel nicht zu gewagt, warum wollte Mathias sich nie was anziehen?
    Marc legte sich die Hände vor die Augen. Er war an dem Punkt angelangt, an dem das Gespinst der Gedanken zu einem solchen Chaos wurde, daß keine Nadel mehr hindurchpaßte. Es gab keine andere Möglichkeit, als alles sein zu lassen und zu versuchen einzuschlafen. Geordneter Rückzug aus der Kampfzone, hätte Lucien gesagt. Eruptierte Lucien manchmal? Falls es das Wort gab. Oder eruptionierte? Lucien gehörte wohl eher in die Kategorie chronische, langsam rauchende seismische Aktivität. Und Mathias? Mathias war alles andere als tektonisch. Mathias war Wasser, Regen. Großes, weites Wasser, Ozean. Der Ozean, der die Lava abkühlt. Trotzdem, am Grund des Ozeans ist es nicht so ruhig, wie man denkt. Auch da sitzt viel Scheiße, warum auch nicht. Gräben, Brüche... Und ganz am Grund vielleicht sogar widerliche unbekannte Tierarten. Alexandra war schlafen gegangen. Von unten kam kein Geräusch mehr, alles war dunkel. Marc erstarrte allmählich, aber ihm war nicht kalt. Im Treppenhaus ging das Licht wieder an, und er hörte, wie der Pate leise die Stufen herunterkam und auf seiner Höhe stehenblieb.
    »Du solltest wirklich schlafen gehen, Marc«, flüsterte Vandoosler.
    Und der Alte entfernte sich mit seiner Taschenlampe. Sicher, um draußen zu pinkeln. Eine klare,

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