Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
Brett und verließ leise den Garten. Von der Straße aus nahm er die Westfront unter die Lupe. Die Putzfrau schien nur dienstags und freitags zu kommen. Was war heute für ein Tag? Donnerstag. Im Haus schien sich nichts zu rühren. Er musterte das gepflegte hohe Gittertor, das nicht verrostet war wie ihres und dessen spitze Stäbe sehr imponierend aussahen. Die Aufgabe bestand nur darin, sich über das Tor zu schwingen, ohne von einem Passanten gesehen zu werden, und sich dabei hoffentlich nicht selbst aufzuspießen. Marc beobachtete kurz die kleine, menschenleere Straße. Er mochte diese Straße. Dann holte er die hohe Mülltonne und kletterte darauf, wie Lucien es neulich nachts getan hatte. Er umklammerte die Stangen und schaffte es nach mehreren vergeblichen Versuchen, sich bis zur Oberkante des Tores hochzuziehen, die er ohne Riß in der Hose überwand.
    Seine Geschicklichkeit bereitete ihm Vergnügen. Während er sich auf die andere Seite hinunterließ, dachte er, daß er wirklich einen guten Sammler (nicht Jäger) abgegeben hätte – voller Kraft und Feingefühl. Begeistert richtete er seine silbernen Ringe, die beim Aufstieg etwas verrutscht waren, und wandte sich mit vorsichtigen Schritten der jungen Buche zu. Warum? Warum sich soviel Mühe machen, um diesen verdammten stummen Baum zu besuchen? Es gab keinen Grund, außer daß er es sich geschworen hatte und die Schnauze voll davon hatte, in einer Geschichte zu versinken, in der Alexandras Rettung jeden Tag zweifelhafter wurde. Dieses blöde, stolze Mädchen packte alles falsch an.
    Marc legte erst die eine Hand an den frischen Stamm, dann die andere. Der Baum war noch jung genug, um ihn mit den Fingern umschließen zu können. Er verspürte fast Lust, ihn zu erwürgen, ihm den Hals zuzudrücken, bis der Baum zwischen zwei röchelnden Luftzügen endlich erzählen würde, weshalb er in den Garten gekommen war. Entmutigt ließ er die Arme fallen. Einen Baum erwürgt man nicht. Ein Baum, sowas redet nicht, ein Baum ist stumm, schlimmer als ein Karpfen, der gibt wenigstens Luftbläschen von sich. Der Baum macht nur Blätter, Holz, Wurzeln. O. k., er produziert auch Sauerstoff, und das ist ziemlich praktisch. Aber davon abgesehen nichts. Stumm. Stumm wie Mathias, der versuchte, seine Feuersteine und seine Knochen zum Reden zu bringen: ein stummer Typ, der sich mit stummen Dingen unterhielt. Das paßte. Mathias beteuerte, er könne sie verstehen, es reiche aus, ihre Sprache zu kennen und ihnen zuzuhören. Marc, der nur das Geschwätz der Texte mochte, der eigenen und der fremden, konnte diese Art der stummen Zwiesprache nicht verstehen. Und trotzdem fand Mathias am Ende immer wieder etwas heraus, das war nicht zu leugnen.
    Er setzte sich neben dem Baum auf die Erde. Das Gras drumherum war noch nicht vollständig nachgewachsen, seitdem man ihn zweimal ausgegraben hatte. Es war ein leichter Flaum von dünngesätem Gras, über das er mit dem Handballen fuhr. Bald würde es dichter und höher sein, dann würde man nichts mehr sehen. Man würde den Baum und seine Erde vergessen. Unzufrieden mit sich rupfte Marc büschelweise das neue Gras aus. Irgend etwas stimmte nicht. Die Erde war dunkel und fett, fast schwarz. Er erinnerte sich gut an die beiden Tage, als sie diesen sinnlosen Graben ausgehoben und wieder zugeschüttet hatten. Er sah Mathias vor sich, der bis zu den Oberschenkeln im Graben steckte und sagte, es reiche jetzt, sie würden aufhören, die tieferen Schichten seien völlig unversehrt. Er sah Mathias’ bloße Füße in seinen mit Erde bedeckten Sandalen. Aber es war eine schlammige, gelbbraune, leichte Erde. Die Erde, die noch in dem Pfeifenkopf der weißen Pfeife steckte, die er aufgelesen hatte. »18. Jahrhundert«, hatte er gemurmelt. Eine helle, krümelige Erde. Und als sie den Graben wieder zugeschüttet hatten, hatten sie die Humusschicht mit der hellen Erde vermischt. Sie war hell, überhaupt nicht so wie die hier, die er gerade in seinen Händen knetete. Jetzt schon neuer Humus? Marc kratzte etwas tiefer. Immer noch schwarze Erde. Er ging um den Baum herum und untersuchte den Boden im gesamten Umkreis. Kein Zweifel, jemand hatte sich hier zu schaffen gemacht. Die Erdschichten waren andere als die, die sie zurückgelassen hatten. Aber die Bullen hatten ja nach ihnen noch einmal gegraben. Vielleicht waren sie tiefer vorgedrungen, hatten eine tieferliegende schwarze Erdschicht angeschnitten. So mußte es sein. Sie hatten die unversehrten Schichten

Weitere Kostenlose Bücher