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Die schöne Kunst des Mordens

Titel: Die schöne Kunst des Mordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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wenn man zum Beispiel annahm, dass man Havanna in Windeseile verlassen musste. Nachdem man, rein hypothetisch, soeben mehrere ungewöhnliche Leichen vor dem Fünf-Sterne-Renommierhotel der Stadt verstreut hatte.
    Ich langte nach dem Skizzenblock, fischte den Flugplan heraus und schnippte das Blatt über den Tisch. »Er wird dort sein.«
    Chutsky nahm das Blatt und entfaltete es. »Cubana Aviación«, las er.
    »Von Havanna nach Mexiko«, ergänzte ich. »Damit er in Windeseile verschwinden kann, wenn alles erledigt ist.«
    »Vielleicht. Mhm, könnte sein.« Er sah zu mir auf und legte den Kopf auf die Seite. »Was sagt dein Bauchgefühl?«
    Ehrlich gesagt hatte mir mein Bauchgefühl nie etwas anderes verraten als die Uhrzeit fürs Abendessen. Doch Chutsky war es offensichtlich sehr wichtig, und wenn ich den Begriff »Bauch« auf den Passagier ausdehnte, verriet mir mein Bauch, dass absolut kein Zweifel bestand. »Er wird dort sein«, wiederholte ich.
    Chutsky runzelte die Stirn und betrachtete noch einmal die Zeichnung. Dann nickte er, zunächst langsam, dann zunehmend energischer. »Mhm«, sagte er, blickte hoch, schob mir den Flugplan zu und stand auf. »Reden wir mal mit Deborah.«
    Deborah lag in ihrem Bett, was keine Überraschung war. Sie starrte zum Fenster, obgleich sie vom Bett aus nicht hinaussehen konnte, zudem lief der Fernseher und übertrug Szenen unirdischer Heiterkeit und Glücks. Debs schien an der munteren Musik und dem seligen Geschrei, die aus dem Lautsprecher drangen, nicht sonderlich interessiert. Wäre man gezwungen gewesen, ausschließlich nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, hätte man annehmen müssen, dass sie niemals in ihrem Leben Glück empfunden hatte und sich daran auch nichts ändern würde, wenn sie es verhindern konnte. Als wir eintraten, warf sie uns einen desinteressierten Blick zu, gerade lange genug, um uns zu identifizieren, und wandte sich wieder zum Fenster.
    »Sie ist ein bisschen niedergeschlagen«, murmelte Chutsky mir zu. »Das passiert manchmal, wenn man zu Kleinholz gemacht wurde.« Angesichts der Narben in Chutskys Gesicht und an seinem Körper ging ich davon aus, dass er wusste, wovon er sprach, deshalb nickte ich nur und trat zu Deborah.
    »He, Schwesterherz«, grüßte ich in dem gekünstelt fröhlichen Ton, den man meiner Lektüre nach am Krankenbett anschlug.
    Sie drehte sich zu mir um, und in der Starre ihres Gesichts und der tiefblauen Leere ihrer Augen erkannte ich ein Echo ihres Vaters Harry; ich hatte diesen Blick schon einmal gesehen, bei Harry, und aus den blauen Tiefen stieg eine Erinnerung und hüllte mich ein.
     
    Harry lag im Sterben. Es war für uns alle unangenehm, als sähe man zu, wie Supermann sich in Kryptonitkrämpfen windet. Er hätte über solch irdische Schwächen erhaben sein sollen. Doch sein Sterben zog sich seit anderthalb Jahren hin, und nun näherte er sich allmählich der Ziellinie. Harry starb, ohne jeden Zweifel, und während er in seinem Hospizbett lag, beschloss die Schwester, ihm zu helfen. Sie erhöhte absichtlich die Dosierung seiner Schmerzmedikamente auf ein tödliches Niveau und weidete sich an Harrys Tod, genoss sein Verblassen. Ihm entging das nicht, und er erzählte es mir. Und – o Freude, o Glückseligkeit – er erteilte mir die Erlaubnis, die Schwester zu meiner ersten, echten, lebenden Spielkameradin zu machen, zur ersten, die ich mitnahm auf den Dunklen Spielplatz.
    Und ich tat es. Die erste Schwester verwandelte sich in den ersten kleinen Tropfen Blut auf einem Objektträger in meiner nagelneuen Sammlung. Es dauerte mehrere Stunden des Staunen, Erforschens und der Ekstase, bis die erste Schwester den Weg allen Fleisches ging, und als ich Harry am nächsten Tag im Hospiz besuchte, um Bericht zu erstatten, war ich noch ganz erfüllt von der strahlenden Dunkelheit.
    Als ich Harrys Zimmer betrat, berührten meine Füße kaum den Boden, und als Harry die Augen aufschlug und in meine blickte, erkannte er das, erkannte, dass ich verwandelt, zu dem Ding geworden war, zu dem er mich gemacht hatte, und während er mich musterte, erschien die Starre in seinem Blick.
    Ich saß ängstlich neben ihm, in dem Glauben, er hätte wieder einen Anfall. »Geht es dir gut?«, fragte ich. »Soll ich den Arzt rufen?«
    Er schloss die Augen und schüttelte langsam, zerbrechlich, den Kopf.
    »Was hast du denn?«, bohrte ich, weil ich der Meinung war, da ich mich besser fühlte denn je, sollten auch alle anderen ein wenig fröhlicher

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