Die Schöne und das Biest
mir verzeihen“, sagte er. „Ich hätte Euch nicht so überrumpeln dürfen.“
„Nein, das hättet Ihr nicht.“ Belle wandte sich ab. Inständig flehte sie darum, dass ihm nicht auffallen würde, wie puterrot ihr Gesicht anlief.
„Ich möchte jetzt gerne in die Bibliothek, wenn Ihr nichts dagegen einzuwenden habt“, fuhr sie fort, indem sie Philippe den Rücken zukehrte.
Natürlich hatte er nichts dagegen einzuwenden. Er ließ sie gehen. Und Belle ging ohne Umwege sofort in die Bibliothek. Gleich im ersten Regal suchte sie nach einem passenden Buch, mit dem sie sich von ihren verrückt spielenden Gedanken ablenken konnte.
Schon früh hatte Belle von ihrem Vater das Lesen gelernt. Er war nicht wie die Burschen im Dorf, die die Meinung vertraten, eine Frau dürfte keine geistigen Fähigkeiten entwickeln. Ihr Vater hatte ihr vieles beigebracht, doch das Lesen liebte sie davon am meisten.
In dem ersten Regal der Schloss-Bibliothek fand sie etwas über Pflanzen und Medizin. Warum nicht, sagte sich Belle, und ergriff dasExemplar. Mit diesem Lesestoff machte sie es sich in einem der Sessel bequem, von denen in jeder Ecke des Raumes einer stand.
Verbissen blätterte sie durch das Buch, ohne tatsächlich etwas zu lesen. Sie spürte den Kuss auf ihren Lippen immer noch viel zu intensiv. Die Szene spielte sich wieder und wieder in ihrem Kopf ab. Es schien unmöglich, an etwas anderes zu denken. Zu allem Überfluss fiel ihr auf, dass Philippe vor der Bibliothekstür Wache schob. Er behielt Belle im Auge, wie sein Herr es ihm aufgetragen hatte. Sie ärgerte sich über diesen Umstand. Ihre Fingernägel krallten sich regelrecht in den Buchdeckel, so verkrampft saß sie da.
Reiß dich zusammen!
, schimpfte sie sich selbst in Gedanken aus.
Belle holte einmal tief Luft und klappte das Buch zu, um es noch einmal auf der ersten Seite aufzuschlagen und mit dem Lesen zu beginnen.
Irgendwann musste sie über dem Buch eingeschlafen sein. Undeutlich drang eine Stimme in ihr Bewusstsein. Verstört nahm sie wahr, wie ihr der Lesestoff aus den Händen genommen wurde. Jemand fasste sie an der Schulter an.
„Nein, nicht!“, stieß sie aus, da sie überzeugt war, dass es sich um Philippe handelte. Sie fuhr in dem Sessel hoch und riss die Augen auf. Vor ihr stand das Ungeheuer in seiner vollen, beeindruckenden Größe. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.
„Du bist eingeschlafen“, lautete seine wenig originelle Erklärung.
„Ja“, war dann auch alles, was Belle erwiderte.
Eine ganze Weile sahen sie sich einfach nur an — wie zwei Tiere, die beide auf der Lauer lagen. Schließlich machte das Ungeheuer einen neuen Anfang, indem es ihr das Buch wieder reichte.
„Ich wollte es dir nicht aus der Hand nehmen. Falls du weiterlesen möchtest ...?“
Belle warf einen Blick auf den Titel: „Pflanzen und Medizin“. Sie erinnerte sich nicht daran, ob sie überhaupt ein Wort daraus gelesen hatte.
„Oh, nein“, sagte sie. „Ich möchte lieber eine richtige Geschichte lesen. Eine, die in einem fremden Land spielt. Und natürlich sollte es auch eine Liebesgeschichte sein.“
„Liebesgeschichte.“ Das Ungeheuer presste das Wort aus seinem Mund hervor, als würde es ihm Schmerzen bereiten. „Davon gibt es in meiner Bibliothek keine große Auswahl. Dort hinten in der Ecke stehen ein paar Bücher.“ Er deutete mit seiner Pranke in einen Regalabschnitt ganz unten am Boden.
Belle hüpfte aus dem Sessel auf ihre Füße. Sie lief auf die Stelle zu und zog wahllos eines der Bücher heraus. Staub wirbelte ihr entgegen. Genau davon musste sie auch den Ledereinband erst befreien, ehe sie den Titel lesen konnte. „Die schöne Madelaine“, stand dort.
„Ich verstehe nicht, was es gegen Liebesgeschichten einzuwenden gibt.“ Während sie sich in den Sessel zurückfallen ließ, schlug sie das Buch auf.
„Komm, setz dich“, sagte sie zu dem Ungeheuer. „Ich lese dir etwas vor. Du wirst sehen, dass dir die Geschichte am Ende doch gefällt.“
„Nein, ich habe andere Dinge zu tun“, wehrte es ab.
„Was denn? In die Sterne sehen?“ Belle konnte sich diese spitze Bemerkung einfach nicht verkneifen. Sie erntete darauf ein gefährliches Grummeln des Biests. Kurz hatte sie Angst, es könnte sich auf sie stürzen. Aber schon wurde es wieder ganz ruhig. Ohne ein weiteres abwehrendes Wort setzte es sich auf den Boden neben den Sessel.
Es schaute Belle nicht an, lauschte lediglich ihrer klaren Stimme. Belle besaß die Fähigkeit,
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