Die Schönen und Verdammten
begreifen… Sie kennen mich doch überhaupt nicht.« Sie zögerte und richtete den Blick wieder auf ihn, ließ ihn plötzlich auf ihm ruhen, als sei sie überrascht, ihn dort zu erblicken. »Ich habe eine Schwäche für das, was Sie billig nennen. Ich weiß nicht, woher, aber es ist – ach, solche Dinge eben, grelle Farben und die Wonnen der Gewöhnlichkeit. Mir scheint, ich gehöre hierher. Diese Leute würden mich zu schätzen wissen, diese Männer sich in mich verlieben und mir huldigen, wohingegen die klugen Männer, die ich kennenlerne, mich nur zergliedern und mir sagen, ich sei so oder so aus diesem oder jenem Grund.«
In diesem Augenblick hätte Anthony sie am liebsten gemalt, sie auf der Stelle auf Papier gebannt, so wie sie jetzt [101] war, so wie sie, mit jeder unbarmherzigen Sekunde, nie wieder sein würde.
»Woran denken Sie?«, fragte sie.
»Ach, nur daran, dass ich kein Realist bin«, sagte er, und dann: »Nein, nur der Romantiker bewahrt die Dinge, die es wert sind, bewahrt zu werden.«
Aus den Tiefen von Anthonys Intellekt kristallisierte sich eine Einsicht heraus, die weder atavistisch noch obskur, ja kaum körperlicher Natur war, eine Einsicht, die den Liebesgefühlen vieler Generationen vor ihm abgelauscht war: dass sie ihn, während sie sprach und seinen Blick suchte und den lieblichen Kopf wendete, auf eine Weise anrührte, wie er noch nie zuvor angerührt worden war. Die Hülle, die ihre Seele umschloss, hatte einen tieferen Sinn angenommen – das war alles. Sie war eine Sonne, sie leuchtete, wuchs, sammelte und speicherte Licht – und verströmte es nach einer Ewigkeit in einem Blick, einem Halbsatz hin zu jenem Teil seiner selbst, der alle Schönheit und alle Illusion verehrte.
[102] Ein Connaisseur von Küssen
Seit seinen Studententagen als Herausgeber des Harvard Crimson hatte Richard Caramel den Wunsch gehabt zu schreiben. Als höheres Semester setzte sich jedoch bei ihm die schwärmerische Vorstellung fest, bestimmte Männer seien zum ›Dienst‹ ausersehen und müssten, wenn sie in die Welt hinausgingen, unbedingt ein gewisses Etwas zuwege bringen, das ihnen entweder mit ewigem Lohn vergolten würde oder wenigstens mit der persönlichen Genugtuung, für das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl eingetreten zu sein.
Diese Denkweise erschüttert in Amerika die Colleges schon seit langem. Sie ergreift in der Regel unreife und leichtgläubige Erstsemester – zuweilen aber auch jüngere Schüler. Überall reisen für ihr gefühlsbetontes Getue bekannte Apostel von Universität zu Universität, verschrecken die liebenswerten Schäfchen und ersticken jedes bisschen intellektuelle Anteilnahme und Neugier – eigentlich Zweck jeder Erziehung – im Keime mit ihrem rätselhaften Verständnis von Sündhaftigkeit, die auf Kindheitsverfehlungen und die allgegenwärtige Bedrohung durch ›das Weib‹ zurückzuführen sein soll. Diese Reden werden von gottlosen Jugendlichen besucht, die juchzen und buhen, aber auch von Verängstigten, die die süßen Pillen schlucken. Letztere [103] wären harmlos, wenn man sie Bauersfrauen und gottesfürchtigen Drogisten verabreichen würde, doch für künftige ›Führungskräfte‹ sind sie eine recht gefährliche Arznei.
Der Krake war kräftig genug, Richard Caramel mit einem seiner sehnigen Fangarme einzuwickeln. Gleich nach dessen Studienabschluss bestellte er ihn in die Slums von New York, wo Richard sich als Sekretär eines ›Vereins zur Rettung fremder junger Männer‹ mit orientierungslosen Italienern abgab. Damit war er mehr als ein Jahr befasst, bis ihn die Monotonie aufzureiben begann. Der Zustrom von Fremden – Italienern, Polen, Skandinaviern, Tschechen, Armeniern – riss nicht ab; sie kamen mit den immergleichen Kränkungen, den immergleichen außergewöhnlich hässlichen Visagen und den immergleichen Gerüchen, auch wenn er sich einbildete, dass diese im Laufe der Monate durchdringender und vielfältiger wurden. Seine allfälligen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Tunlichkeit dieses Dienstes blieben vage, doch was sein eigenes Engagement anging, so zog er sie jäh und entschieden. Jeder liebenswerte junge Mann, dem der neueste Kreuzzug den Kopf verdrehte, konnte bei dem Abhub Europas ebensoviel ausrichten wie er – und es wurde Zeit, dass er schrieb.
Er hatte in einem CVJM -Heim in Downtown gewohnt, doch als er sich der Vorstellung entledigt hatte, aus Kieselsteinen Diamanten schleifen zu können, zog er in ein
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