Die Schönen und Verdammten
stützte er sich auf die Fensterbrüstung und blickte auf die sich windende Straße hinaus.
Der Zufall fügte es, dass just in diesem Augenblick Thérèse, ein sechzehnjähriges Bauernmädchen aus einem Nachbardorf, auf der Straße vorbeikam, die vor dem Kloster verlief. Fünf Minuten vorher war das abgewetzte kleine Band durchgerissen, das den Strumpf an ihrem hübschen linken Bein hielt. Da sie ein Mädchen von ausnehmender Sittsamkeit war, hatte sie vorgehabt, den Schaden zu beheben, sobald sie zu Hause wäre, doch war es ihr so unbequem geworden, dass sie es nicht länger aushalten zu können vermeinte. So blieb sie stehen, als sie eben den Turm der Keuschheit passierte, und raffte – zu ihrer Ehre sei gesagt: so wenig wie möglich – mit einer anmutigen Geste ihren Rock, um das Strumpfband zu befestigen.
Oben im Turm beugte sich der jüngste Ankömmling im altehrwürdigen Kloster St. Voltaire, wie von einer ungeheuren und unwiderstehlichen Hand gezogen, aus dem Fenster. Er beugte sich weiter und weiter hinaus, bis sich unter seinem Gewicht plötzlich einer der Steine löste, mit einem leisen pudrigen Geräusch aus dem Zement herausbrach – und der Chevalier O’Keefe erst kopfüber, dann Hals über Kopf und schließlich in einer großen eindrucksvollen Volte hinabstürzte, der harten Erde und der ewigen Verdammnis entgegen.
Von dem Vorfall war Thérèse so mitgenommen, dass sie den ganzen Weg nach Hause rannte und zehn Jahre lang [125] eine Stunde am Tag heimlich für das Seelenheil des Mönchs betete, der an jenem unglückseligen Sonntagnachmittag seine Gelübde gebrochen hatte und damit zugleich seinen Hals.
Und der Chevalier O’Keefe, den man des Selbstmords verdächtigte, wurde nicht in geweihter Erde beigesetzt, sondern in einem nahe gelegenen Feld verscharrt, wo er die Qualität des Humus zweifellos noch viele Jahre danach verbesserte. Dies war das vorzeitige Ende eines sehr tapferen und ritterlichen Gentlemans. Was hältst du davon, Geraldine?«
Doch Geraldine, die schon längst den Faden verloren hatte, konnte nur schelmisch lachen, ihm mit dem Finger drohen und ihre alles überbrückende, alles erklärende Formel wiederholen: »Verrückt!«, sagte sie. »Du bist verrü-ü-ückt!«
Sein schmales Gesicht war freundlich, dachte sie, und seine Augen ganz sanft. Sie mochte ihn leiden, weil er überheblich war, ohne eitel zu sein, und weil er anders als die Männer, denen sie im Theater begegnete, Angst davor hatte aufzufallen. Was für eine absonderliche, unsinnige Geschichte! Aber die Sache mit dem Strumpf hatte ihr gefallen!
Nach dem fünften Cocktail küsste er sie, und sie verbrachten eine Stunde mit Gelächter, spielerischen Liebkosungen und einem halbunterdrückten Aufflammen der Leidenschaft. Um halb fünf gab sie eine Verabredung vor und ging ins Bad, um sich das Haar zu richten. Sie verwehrte ihm, eine Droschke zu bestellen, und blieb einen Augenblick lang in der Tür stehen.
[126] »Du heiratest doch noch mal«, beharrte sie, »wart’s nur ab.«
Anthony spielte mit einem alten Tennisball, den er mehrere Male vorsichtig auf dem Boden aufprallen ließ, bevor er mit einem Anflug von Schärfe antwortete: »Du bist eine kleine Närrin, Geraldine.«
Sie lächelte provokativ.
»So, bin ich das? Wollen wir wetten?«
»Das wäre genauso albern.«
»So, wäre es das? Nun, ich wette, dass du innerhalb von einem Jahr jemanden heiratest.«
Anthony ließ den Tennisball sehr hart aufprallen. Das war einer von den Tagen, an denen er schön aussah, dachte sie; eine Art Heftigkeit hatte die Schwermut in seinen dunklen Augen verdrängt.
»Geraldine«, sagte er schließlich, »erstens gibt es niemanden, den ich heiraten möchte; zweitens habe ich nicht genug Geld, um für zwei zu sorgen; drittens lehne ich die Ehe für Leute meines Schlages entschieden ab; viertens verspüre ich schon gegen die abstrakte Überlegung einen starken Widerwillen.«
Doch Geraldine kniff nur wissend die Augen zusammen, schnalzte mit der Zunge und sagte, sie müsse jetzt gehen. Es sei spät.
»Ruf mich bald an«, mahnte sie ihn, als er sie zum Abschied küsste, »weißt du, dass du das schon seit drei Wochen nicht mehr getan hast?«
»Mach ich«, versprach er eifrig.
Er schloss die Tür, und als er wieder ins Zimmer kam, blieb er, noch immer den Tennisball in der Hand, einen [127] Augenblick gedankenverloren stehen. Nun überkam ihn wieder eines seiner Einsamkeitsgefühle, wie auf der Straße oder am Schreibtisch,
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