Die schönste Zeit des Lebens
ihrer Stimme hinterher. Ich werde auf Sie warten, sagt sie dann, und er hört es ihrer Stimme an, dass sie es ernst meint: Sie wird warten, eine Nacht, einen Tag und wieder eine Nacht, bis er wiederkommt.
2
ER STELLT DAS FAHRRAD am Zaun ab, stößt die Gartentür auf. Auf dem Rasen neben der Haustür Stühle, eine Bank, Blumentöpfe, Regale, eine Stehlampe. Als er ums Haus herumgeht, kommt ihm der Vater mit einem zusammengerollten Teppich über der Schulter entgegen. Er keucht, das Gesicht von der Anstrengung blaurot, ächzend legt er den Teppich auf den Rasen neben die anderen Sachen.
Tut mir leid! Das Vorlesen hat länger gedauert …
Der Vater steht gebückt, atmet schwer, wendet sich nicht um. Schleif die Fensterbänke ab, knurrt er. In seiner Stimme unterdrückte Wut.
Aber picobello!
Er hat es gewusst. Er ist nicht überrascht, nicht einmal traurig oder erschrocken oder verärgert ist er. Es ist wie eine Lähmung, in ihm drin ist alles tot, als wäre er ein anderer, so sieht er sich vor dem Vater stehen. Das Vorlesen hat länger gedauert. Was für ein Satz, was für ein sinnloser, lächerlicher Satz! Er hätte genauso gut sagen können: Ich hatte eine Panne mit dem Rad, oder: Der Weidendamm stand unter Wasser, und ich musste einen Umweg übers Brinkviertel machen. Der Vater hört gar nicht hin, oder er hört die Wörter, aber sie sagen ihm nichts. Es ist nach sechs und nicht Viertel nach fünf. Mehr muss der Vater nicht wissen.
Wo die Schleifmaschine ist, will der Junge fragen, fragt aber nicht, weil er sich nicht traut, weil er Angst hat, dass der Vater gleich wieder losbrüllt in seiner Wut. Auf der Veranda ist sie nicht, im Wohnzimmer auch nicht. Er geht hinunter in den Keller, sucht überall in dem alten Küchenschrank, wo der Vater das Handwerkszeug aufbewahrt.
Wo ist die Schleifmaschine?, fragt er dann doch, als er wieder auf die Veranda tritt.
Bist du blind? Da vor deinen Füßen liegt sie, brüllt der Vater.
Die Schleifmaschine liegt mitten auf dem Fußboden der Veranda. Wie zum Hohn liegt sie da, gar nicht zu übersehen. Ist es möglich, dass er sie vorhin trotzdem übersehen hat? Oder hat sie der Vater dort hingelegt, während er sie im Keller suchte, hat sie auf den Fußboden gelegt, so, dass er fast darüber gestolpert wäre, nur um ihm wieder einmal zu beweisen, was für ein Idiot er ist, was für ein Versager?
Er nimmt die Maschine, schließt sie mit einem Verlängerungskabel an die Steckdose im Wohnzimmer an. Das Schleifpapier ist abgenutzt, nicht mehr zu gebrauchen. Er muss noch einmal in den Keller, um neues zu holen. Das Schleifpapier, das weiß er, liegt in der obersten Schublade des alten Küchenschranks. Während er die Kellertreppe wieder hinaufsteigt, denkt er an Shehrezad und wie sie mit ihren Geschichten den grausamen König Shehrijar milde stimmt und so ihren Hals rettet. Mit Geschichten! Keine zwei Sätze weit würde er kommen, da hätte der Vater ihn schon angebrüllt, er solle aufhören, Geschichten zu erzählen. Er solle lieber seine Arbeit machen, und zwar ordentlich, picobello!
Er nimmt das abgenutzte Schleifpapier aus der Halterung, scheinbar ruhig, gelassen, aber er spürt, dass der Vater ihn aus den Augenwinkeln beobachtet, na, soll er doch, spannt das neue Schleifpapier ein, geht hinüber zur Fensterbank, schaltet die Maschine ein, will eben mit dem Abschleifen beginnen, da ist der Vater mit einem Sprung bei ihm, reißt ihm die Maschine aus der Hand.
Bist du verrückt? Meinst du, ich will den ganzen Staub im Wohnzimmer haben?
Er steht da mit gesenktem Kopf, gelähmt vor Schreck und Angst, sagt nichts, duckt sich nicht, als der Vater mit der Rechten ausholt, spürt schon den Schmerz im Gesicht, den die schwere Hand verursachen wird, den Schmerz, die Scham, die Wut. Aber der Vater schlägt nicht, einen Achtzehnjährigen schlägt man nicht, auch wenn er es verdient hätte.
Was meinst du wohl, wozu ich die Plastikfolie besorgt habe und das Klebeband, brüllt er.
Erst später im Bett wird er weinen, trockene Tränen der Verzweiflung und der Wut, weil man mit achtzehn Jahren nicht mehr richtig weint, jedenfalls nicht so, wie man als Kind geweint hat. Aus dem Wohnzimmer dringen Stimmen zu ihm herüber, die Stimme der Mutter klagend, vorwurfsvoll, die Stimme des Vaters, in der sich die aufsteigende Wut ankündigt. Gleich werden sie wieder zu streiten beginnen, der Vater wird brüllen, die Mutter erst schreien, dann weinen, dann schluchzen.
Der Vater vor dem Fernseher,
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