Die schönste Zeit des Lebens
ausgebreiteten Schwingen lautlos durch die Stille gleiten, sich von der Thermik tragen lassen, höher, immer höher hinauf. Wohin? Die Frage irritiert ihn nur kurz, ist im Grunde spielerisch leicht, leicht zu beantworten: irgendwohin. Hier oben in der Stille, in der grenzenlosen Weite, beantwortet sie sich von selbst. Sich leicht machen, die Arme ausbreiten, er könnte mit geschlossenen Augen rückwärts fliegen, so sicher fühlt er sich. Aber diese Zuversicht, das weiß er aus Erfahrung, täuscht, dieses Gefühl, dass, wo immer es ihn hinführt, er am Ziel sein wird, ist eine Illusion. Er muss wachsam sein, darf sich nicht in falscher Sicherheit wiegen.
Er springt aus dem Bett, zieht den Bademantel an. Einen Augenblick zögert er, lauscht in die Stille. Nichts. Er geht zur Tür, tritt auf den Flur, lauscht, auch hier nichts. Schlafen noch, denkt er, aber als er fast geräuschlos den Flur entlang und in die Küche … In der Küche sitzt die Mutter, sie lächelt ihn an, erwartungsvoll, wehmütig, liebevoll.
Vater schläft noch, sagt sie. Er fühlt sich nicht wohl.
Er steht in der Küchentür, stumm, festgenagelt, gibt sich endlich einen Ruck, geht hinüber zu ihr, nimmt sie in seine Arme, flüchtig, berührt sie kaum, tut es, weil er weiß, dass sie es erwartet. Für einen Moment drückt sie ihn an sich, hält ihn und seufzt, dann steht sie auf.
Setz dich! Ich bring dir Kaffee.
Sie nimmt seinen Becher, geht hinüber zur Kaffeemaschine, gießt Kaffee ein, stellt den Becher vor ihn hin, steht da, betrachtet ihn, ihren Sohn, schaut zu, wie er den Becher zum Munde führt und trinkt, in ihrem schäbigen wattierten Morgenmantel steht sie da und wartet darauf, dass er etwas sagt.
Robert?
Es klingt wie eine Frage, aber in Wirklichkeit, das weiß er, ist es eine Bitte: Sprich mit mir, Robert! Sag irgendetwas, erzähl mir, was du gestern den Tag über gemacht hast, was du heute tun wirst! Was hast du geträumt, Robert? Was geht dir im Kopf herum? Sprich mit mir!
Aber ihm fällt nichts ein, was er sagen könnte, sagen möchte, auch nichts Belangloses, Nebensächliches, etwas, was man sagt, um überhaupt etwas zu sagen. Wie beginnt man überhaupt ein Gespräch, so ein Gespräch? Solange er zurückdenken kann, hat er mit seiner Mutter kein Gespräch geführt. Und mit seinem Vater erst recht nicht. Selbst wenn man es versuchte, könnte man mit ihm kein Gespräch führen. Das Gespräch ist immer schon zu Ende, wenn der Vater den ersten Satz gesagt hat. Selbst seine Fragen lassen keinen Raum für Antworten. Sie spießen einen auf, wie man tote Insekten aufspießt. Aber seine Mutter möchte, dass er sich mit ihr unterhält. Weil sie glaubt, dass in einer Familie Gespräche geführt werden müssen, dass sie, alle drei, miteinander reden müssen, um das Schlimmste vielleicht noch abzuwenden.
Was machst du heute, fragt die Mutter. Er, das Gesicht halb hinter dem Kaffeebecher verborgen, schweigt, schweigt lange, sagt dann: Nichts, blickt auf, sieht ihr von so vielen Enttäuschungen fahl gewordenes Gesicht, sagt: Vielleicht geh ich nachher mal kurz auf den Sportplatz.
Fußball spielen?, fragt die Mutter.
Vielleicht, sagt er.
Du musst was essen.
Sie schiebt ihm den Teller mit dem Schinken und der Wurst hin, eine schüchterne Bewegung, fahrig und schüchtern, als glaubte sie selbst nicht an das, was sie tut.
Ja, Mama.
Sie sitzen sich gegenüber und schweigen. Die Mutter hat sich eine Zigarette angezündet, trinkt Kaffee, raucht, schweigt. Du wirst dich erkälten, sagt sie, barfuß auf dem kalten Steinfußboden. Der Junge ihr gegenüber kaut an seinem Brot, nimmt einen Schluck aus dem Becher, die Augen niedergeschlagen, stumm. Dann, als das Schweigen unerträglich wird, steht er plötzlich auf, geht wortlos hinaus. Das Brot, halb aufgegessen, bleibt auf dem Teller zurück.
Sie hört ihn im Bad, hört die Klospülung, die Dusche, hört ihn über den Flur in sein Zimmer gehen. Auf der Küchenuhr ist es zwanzig nach neun, als sie die Haustür zuschlagen hört. Seine Schritte auf dem Kies. Das Knarren der Schuppentür. Er holt das Fahrrad aus dem Schuppen. Er schiebt es über den Kies. Er öffnet die Gartentür. Die Gartentür fällt ins Schloss. Lauter Dinge, die mit Zwangsläufigkeit geschehen, eine Kette von gänzlich unbeeinflussbaren, zwangsläufig ablaufenden Geschehnissen.
Und am Ende ist sie allein mit einem Tag, der wie alle anderen ist, und das kleine bisschen Hoffnung, mit dem sie aufgestanden ist, ist schon wieder
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