Die schönste Zeit des Lebens
weiß noch nicht, ob er mitkommen kann. Und ohne ihn und sein Auto wird es wohl nichts.
Er sagt es so, als wäre ihm an der Reise ohnehin nicht allzu viel gelegen.
Na ja, sagt die Mutter so beiläufig, wie es ihr möglich ist, und blickt dem Rauch ihrer Zigarette nach. Ihr wisst ja, dass ihr jederzeit mit uns nach Italien fahren könnt, Fari und du.
Als Robert auf dem Fahrrad sitzt und den Weidendamm entlang Richtung Altenhilfe fährt, ist von der Zuversicht, die ihn beim Aufstehen erfüllte, schon nicht mehr viel übrig. Herrn Meinertz’ Erzählungen aus seiner Zeit als Gerichtsvollzieher, die ihn sonst immer leidlich amüsieren, öden ihn heute an, Frau Welachs leicht zu durchschauende Tricks, die er normalerweise mit Humor zu nehmen weiß, deprimieren ihn. Er ist froh, als es endlich Nachmittag ist. Lange sitzt er auf einer Bank am Schwanenweiher, kaut auf seinem Brot und starrt ins Wasser. Was ist mit mir los? Was ist mit mir los?
Frau Klein ist freundlich wie immer. Wann es denn losgehe, will sie wissen.
Wann was losgehe, fragt Robert.
Na, die Reise an die Adria.
Ach die, sagt Robert. Bald … In knapp drei Wochen.
Dass es Schwierigkeiten gibt, dass sie jetzt, da Andy wieder einmal Ärger mit der Polizei hat, vielleicht gar nicht fahren werden, sagt er nicht.
Wenn Sie wiederkommen, sagt Frau Klein, dann backe ich einen Kuchen und Sie berichten mir ganz genau, wie es da heute aussieht, an der Adria.
Punkt drei steht Robert bei Frau Sternheim vor der Wohnungstür. Er klingelt, aber es rührt sich nichts. Als Robert zum dritten Mal klingelt, geht nebenan die Wohnungstür auf und eine junge Frau mit einem Hündchen auf dem Arm sagt: Als der Postbote heute Morgen mit dem Einschreiben da war, hat sie auch nicht aufgemacht.
Wie um es ihm zu demonstrieren, drückt nun auch sie noch einmal auf die Klingel. Drinnen bleibt es still. Robert hat einen Schlüssel, mit dem er die Wohnungstür aufsperren könnte. Aber auf einmal beschleicht ihn ein merkwürdiges Gefühl.
Gibt es hier einen Hausmeister?, fragt er.
Ja, unten im Parterre links, sagt die junge Frau. Reichert.
Der Hausmeister ist jünger, als Robert gedacht hat. Mitte dreißig vielleicht. Unter einem Hausmeister hat er sich bisher immer ältere Männer in grauen Kitteln vorgestellt. Herr Reichert trägt Turnschuhe, Jeans und ein kariertes Hemd, nimmt die Treppe hinauf immer zwei Stufen auf einmal.
Na, dann schauen wir mal!, sagt er.
Er schließt die Tür zu Frau Sternheims Wohnung auf, Robert folgt ihm, die junge Frau bleibt draußen auf dem Treppenabsatz stehen. Im Flur der Wohnung brennt das Licht. Im Wohnzimmer ist niemand, in der Küche auch nicht. Der Hausmeister öffnet die Tür zum Schlafzimmer.
Frau Sternheim? Frau Sternheim!
Robert, der hinter dem Hausmeister ins Schlafzimmer tritt, weiß merkwürdigerweise sofort, dass sie tot ist. Wie schlafend liegt sie da, auf dem Gesicht denselben konzentrierten Ausdruck, mit dem sie ihm beim Vorlesen zuhörte. Der Hausmeister macht einen Schritt auf sie zu, bleibt stehen, schaut Robert fragend an.
Sie rührt sich nicht, sagt er.
Robert nimmt ihren Arm, fühlt ihren Puls. Dann geht er in den Flur und wählt die Notrufnummer.
Und wenn ich es nicht mehr schaffe, lege ich mich hin und sterbe.
Das hat sie gleich am ersten Tag zu Robert gesagt. Er muss daran denken, wie ihr das Missgeschick mit dem Tablett passierte und sie lange wie erstarrt stehen blieb, als wäre ihr ganz plötzlich eine schreckliche Einsicht gekommen. Ob ihr in diesem Augenblick klar wurde, dass sie es nicht mehr schafft?
Der Arzt kommt, wenig später die Polizei. Robert berichtet sachlich und knapp.
Ah, von der Altenhilfe, sagt der Polizist. Und wann genau haben sie geklingelt?
Genau um drei, sagt Robert.
Der Hausmeister staunt, wie professionell sich dieser junge Mensch in einer solchen Lage verhält: Den wirft so leicht nichts um. Aber als Robert zwanzig Minuten später mit dem Fahrrad davonfährt, laufen ihm die Tränen übers Gesicht. Er tritt wütend in die Pedale, stopft sich den Fahrtwind wie einen Knebel in den Mund, damit er nicht schreien muss vor Schmerz und vor hilfloser Wut.
Er fährt nicht nach Haus. Er fährt an der Gärtnerei vorbei, den Feldweg entlang, biegt vor dem Wäldchen rechts ab, folgt einem grasbewachsenen Pfad, der sich zwischen Ginsterbüschen hindurchschlängelt. In der Lohheide lehnt er das Fahrrad an einen Baum, legt sich an einer Böschung ins Gras und schaut in den grauen Himmel. Er weiß,
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