Die schönste Zeit des Lebens
die Flasche halb leer ist, setzt Werner sich neben Edith auf das Sofa. Aber das will sie jetzt nicht, dass der Werner so nah bei ihr sitzt.
Nicht hier!, sagt Edith, als Werner seine Hand auf ihre Brust legen will. Der Junge kann jederzeit kommen.
Morgen Nachmittag bei mir, sagt Werner.
Kommt nicht in Frage!
Edith ist entrüstet. Aber sie lacht. Über so viel Dreistigkeit kann sie nur lachen.
Am Donnerstag ist Feiertag, sagt sie. Da kommst du zu uns zum Essen. Die andere Flasche Sekt kannst du ja dann meinetwegen mitbringen.
Aber als Egon am nächsten Tag gleich nach dem Mittagessen zum TSV-Platz aufbricht und wenig später Robert mit dem Fahrrad zu Tom fährt, um mit ihm zu überlegen, was man für Andy tun kann, da denkt Edith, dass es ihr vielleicht guttäte, einen Spaziergang zu machen, und als sie auf ihrem Spaziergang zufällig an Werners Haus vorbeikommt, da steht der im Garten, sieht sie schon von Weitem, freut sich, winkt sie ins Haus und hat schon im Flur beide Hände auf ihren Brüsten.
Alles, was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit. Jedenfalls sieht es hinterher so aus. Als Edith auf dem Heimweg durch die Goldbachsiedlung geht und aus dem Anemonenweg kommend in die Bredowstraße einbiegt, hat sie das deutliche Gefühl, dass es das war, was sie seit einiger Zeit auf sich zurollen sah. Sie hat es nicht gewollt, womöglich hat auch Werner es nicht gewollt, vielleicht sind sie beide nur Werkzeuge einer Bewegung, die Gelegenheiten schafft und Gelegenheiten nutzt. Sie hat kein schlechtes Gewissen, das nicht, allenfalls beunruhigt es sie ein wenig, dass sie so gar kein schlechtes Gewissen hat. Nicht einmal ein Kommentar fiele ihr ein, wenn man sie drängte, etwas dazu zu sagen. Nur, dass sich das nicht wiederholen soll, da ist sie sich sicher.
45
FARI HAT NACHTDIENST , die ganze Woche. Zweimal ruft sie Robert auf dem Handy an.
Wie geht es dir?
Er hat ihr von Frau Sternheims Tod erzählt und von der Beerdigung, die keine Beerdigung war, sondern eine Einäscherung, wie der Mann vom Bestattungsinstitut sagte. Auch von dem lähmenden Schrecken hat er ihr erzählt, als die schwarze Klappe sich öffnete und der Sarg verschwand.
Du darfst nicht immer daran denken, hat sie gesagt. Was meinst du, was ich hier im Krankenhaus alles mit ansehen muss. Wenn ich das nicht verdrängte …
Er liegt im Bett, hat Fieber, isst so gut wie nichts. Am Montagmorgen ruft die Mutter in der Altenhilfe an: Robert ist krank. Es ist das erste Mal, dass Robert wegen Krankheit fehlt.
Jaja, sagt Frau Stechapfel. Der Robert soll sich nur richtig auskurieren. Sagen Sie ihm gute Besserung, Frau Markmann.
Wer hat sich das ausgedacht? Dieser Sarg auf einem flachen Rollwagen, auf zwei metallenen Schienen gleitet er durch die offene Klappe in den Krematoriumsofen. Irgendjemand hat sich das ausgedacht, hat getüftelt, so könnte es gehen oder so, hat Zeichnungen gemacht, nach denen die Anlage gebaut wurde. Eine zweckmäßige Vorrichtung. Der Wille der Verstorbenen. Wir, sagt der Mann vom Bestattungsinstitut, vollstrecken nur den Willen der Verstorbenen. Wie schrecklich das ist, denkt Robert, diese Konsequenz, diese alle Einwände löschende, kalte Konsequenz.
Am Mittwoch geht Robert wieder in den Dienst. Frau Abel ist aus dem Krankenhaus zurück, blass, aber gesprächig wie eh und je. Robert hat sie von Conny übernommen, der wird sich stattdessen um Frau Fechner kümmern, solange Herr Wesendonk auf der Fortbildung ist. Warum der Tausch? Robert hat Frau Stechapfel gesagt, dass er mit Frau Fechner nicht klarkommt. Und sie nicht mit ihm. Und dass Conny bereit wäre, sie zu übernehmen. Nichts weiter. Auch Conny gegenüber hat Robert den wahren Grund nicht genannt. Als er am Nachmittag bei Frau Abel klingelt, ist sie gleich an der Tür. Sie zieht ihn ins Haus, durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer, auf dem Tisch steht der Kaffee bereit, sie hat viel zu erzählen. Von den beiden anderen Frauen in ihrem Krankenzimmer zum Beispiel und dass die immer noch glauben, Robert sei ihr Enkel.
Na und? Könnte doch sein, oder?
Sie lacht, ihre kleinen, blauen Augen glänzen vor Vergnügen, und Robert macht ihr eine Freude und sagt, dass er nichts dagegen hätte, ihr Enkel zu sein.
Am Donnerstag hat Robert Geburtstag. Die Mutter hat ihm einen Kuchen gebacken, und neben dem Kuchen liegt ein dunkelblaues T-Shirt.
Von Vater und mir. Freust du dich?
Robert nickt, nimmt das T-Shirt, faltet es auseinander, hält es eine Weile unschlüssig in der Hand,
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