Die schönste Zeit des Lebens
dass der Vater hier manchmal stundenlang umherirrt, wenn es in ihm rumort. Die Mutter hat es ihm erzählt. Vor Jahren ist er sogar einmal mit dem Vater hier gewesen. Lange haben sie damals unter einer Föhre gesessen, die Rücken an den schuppigen Stamm gelehnt, und der Vater hat ihm mit seinem Taschenmesser einen Stock geschnitzt, rundherum und von oben bis unten mit Mustern bedeckt. Die ganze Zeit über haben sie nur dagesessen und nicht gesprochen, nicht ein einziges Wort.
Die stumme Welt des Vaters. Und Frau Sternheims Welt der Worte. Wenn sie dasaß, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, und Robert zuhörte, war es, als dringe jedes Wort durch die Haut direkt in sie ein.
Und auch er wurde, während er las, ganz durchdrungen von den Worten, die seine eigene Stimme formte. Weil ein Zauber von ihr ausging, wie sie so dasaß, ihr Gesicht dem Licht zugewandt, das durch die Fenster hereindrang, die Augen weit geöffnet, als ströme das Gelesene durch sie direkt in ihre Seele.
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AM DONNERSTAG GEGEN MITTAG ruft Fred an: Es gebe Neuigkeiten. Eine Geschäftsidee, eigentlich schon mehr als eine Idee: Eismaschinen. Mehr wolle er am Telefon nicht sagen. Außerdem habe er Karten für ein Konzert.
Ein Konzert? Egon ist platt: Seit wann gehst du ins Konzert?
Kein Kammerkonzert, wenn du das denkst, sagt Fred. Ronny Weigand und seine Band. Ich hab drei Karten für Sonntag in acht Tagen. Entweder du nimmst Edith mit oder wir suchen uns vorher noch irgendwo eine Braut.
Ronny Weigand?, sagt Edith, als Egon ihr von dem Gespräch mit Fred erzählt. Da komm ich mit.
Du kennst den?
Egon schaut seine Frau verwundert an.
Natürlich, sagt Edith. Du nicht? Hängen doch überall die Plakate in der Stadt. Die Reue-Tournee . Hast du den Artikel in der heutigen Zeitung nicht gelesen? Sie blättert in der Zeitung, die auf dem Couchtisch liegt, findet den Artikel und reicht ihn Egon. Ronny Weigand – Die Reue-Tournee , ein Dreispalter auf der Kulturseite . Während Egon liest, verdüstert sich seine Miene. Als er nach einer Weile aufschaut, ist sein Blick voller Misstrauen.
Sag mal, ist das ein Erweckungsprediger oder was?
Aber nein! Edith lacht. Ronny Weigand! Hast du den Namen noch nie gehört? Das ist ein Rockmusiker, schon etwas älter, aber immer noch gut. Und jetzt hat er grad eine neue CD gemacht und ist damit auf Tour.
Deutschland, Holland, Polen …
Aber hier steht, dass dieser Weigand seine Spiritualität entdeckt und sich zum katholischen Glauben bekehrt hat.
Das stimmt so nicht, sagt Edith. Ihre Stimme hat plötzlich einen mädchenhaft aufgeregten Klang. Also: Er ist in Moers im Rheinland geboren und aufgewachsen und dort natürlich katholisch erzogen worden. Aber dann in den wilden Jahren hat er sich wie die meisten jungen Leute um Religion und so was nicht gekümmert. Waren ja auch andere Zeiten damals. Frauengeschichten, Alkohol, Drogen, er hat sogar ein paar Monate im Gefängnis gesessen, wegen einer Drogensache, glaube ich. Aber das ist alles Vergangenheit. Nun ist er zum Glauben zurückgekehrt.
Egon schaut seine Frau von der Seite an. Zwanzig Jahre sind sie nun schon verheiratet, aber von diesem Weigand, über den sie offenbar alles weiß, was je über ihn in der Zeitung gestanden hat, haben sie nie gesprochen.
Zum Glauben zurückgekehrt, knurrt Egon. Und nun singt er, Choräle oder was?
Quatsch!, sagt Edith. Der macht Rockmusik.
Egon greift wieder nach der Zeitung, liest den Artikel zu Ende, betrachtet lange das Foto daneben, schüttelt ein paar Mal den Kopf.
Also gut, sagt er dann. Hören wir uns den mal an. Wenn Fred uns schon mal einlädt … Kommt ja auch nicht alle Tage vor … Aber jetzt geh ich erst einmal kurz zum TSV-Platz rüber. Weiß gar nicht mehr, wie es da aussieht, so lange war ich schon nicht mehr da.
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FRAU STERNHEIMS BEERDIGUNG . Die Nachbarin, der junge Hausmeister, ein ehemaliger Kollege aus der Stadtbibliothek, eine alte Dame, die offenbar niemand der anderen kennt, und Robert. Morgens um zehn im Krematorium auf dem Nordfriedhof. Robert hat sich vom Dienst befreien lassen. Herr Wesendonk vertritt ihn. Der Herr vom Bestattungsinstitut gibt der kleinen Gruppe ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie treten in eine kahle Halle. Am gegenüberliegenden Ende zwischen zwei Buchsbäumen steht der Sarg. Eiche, braun, ohne Beschläge. Der Herr vom Bestattungsinstitut räuspert sich und sagt, die Verstorbene habe den Wunsch geäußert, dass keine Reden gehalten würden. Es werde daher nur eine sehr
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