Die schönste Zeit des Lebens
auf dem Nachlassamt war, dass er eine Wohnung geerbt hat und eine Menge Geld. Er hat ihr auch keines der Gedichte vorgelesen, die ihm dauernd im Kopf herumgehen. Er weiß nicht, warum er sie nicht einweiht in die Geheimnisse, die ihn mit Frau Sternheim verbinden. Dass er ihr überhaupt von Frau Sternheim erzählt hat, kommt ihm im Nachhinein fast wie ein Vertrauensbruch vor.
Was heißt das, du brauchst Zeit, fragt Fari. Geh ich dir auf die Nerven, dann sag es.
Nein, sagt Robert. Überhaupt nicht. Es liegt nicht an dir, es liegt an mir. Ich muss mir Klarheit verschaffen, wohin es gehen soll in meinem Leben.
Gut, sagt Fari. Wenn du es herausgefunden hast, kannst du dich ja wieder melden.
Das ist das erste von mehreren Telefongesprächen, die sie an diesem Abend führen. Am Ende sind sie so erschöpft, dass sie gar nichts mehr zu sagen wissen.
Wir sehen uns also am Sonntag. Du kommst doch?
Ja, natürlich.
Bis Sonntag dann.
Bis Sonntag. Gute Nacht.
Manchmal hilft es, miteinander zu reden, manchmal nicht. Robert liegt lange wach, weil der Aufruhr in ihm ihn nicht schlafen lässt. Was ist mit mir los? Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er an einer Weggabelung steht und sich entscheiden muss, ohne zu wissen, wie, nach welchen Kriterien. Jetzt, da er die Möglichkeit hat, sich sein Leben nach eigenen Vorstellungen einzurichten, spürt er die Last der Freiheit. Wie soll sein Leben aussehen? Was ist sein Lebensplan? Kann man sein Leben überhaupt planen? Bisher hat er gedacht, es seien die Zwänge, die Forderungen des Vaters, die Erwartungen der Mutter, die ihn daran hinderten, sein Leben zu leben. Aber was ist sein Leben? Wie soll man überhaupt wissen, was man will, wenn man nicht weiß, was die eigene Bestimmung ist?
Bestimmung? Wie kommt dieses altmodische Wort in seinen Kopf? Sie sind ein Wahrheitssucher, hat Frau Sternheim gesagt. Sie sollten Gedichte lesen. Je länger er grübelt, umso mehr setzt sich in ihm der Gedanke fest, dass die Antwort auf seine Fragen in den Büchern zu finden sein müsse, die in Frau Sternheims Wohnung stehen. Man kann sein Leben nicht erfinden, man kann nicht aus dem Nichts heraus ein Leben zusammenbasteln und sagen: Das ist es, das ist mein Ding. Maschinenbau. Er hat sich an dieses Wort geklammert. Mein Berufswunsch: Ich möchte Maschinenbau studieren. Aber Frau Sternheims einfache Frage, ob das sein Herzenswunsch sei, hat auch diese scheinbare Gewissheit zertrümmert.
Und wie machen es die anderen? Max fand schon immer alles gut und richtig, was er gerade machte, er hat nie Probleme, und wenn er welche hat, dann merkt man sie ihm jedenfalls nicht an. Tom wird BWL studieren, wenn er den Zivildienst hinter sich hat, und irgendwann in das Geschäft seines Vaters einsteigen. Ob ihn das wirklich interessiert? Das wirkliche Leben, sagt Tom, hat sowieso nichts mit dem zu tun, was du beruflich machst. Marita will einen sozialen Beruf ergreifen, sagt sie: Kindergärtnerin oder vielleicht Krankenschwester wie Fari. Vielleicht wird sie auch Lehrerin wie ihre Mutter. Und Andy? Als Einziger aus der Clique hat er von Anfang an gesagt, dass er nicht studieren wolle. Arbeitslos werden kann ich auch so. Andy, der, solange Robert ihn kennt, in der Clique den Ton angibt, den Robert bewundert, auch ein wenig fürchtet, weil von seinem Urteil abhängt, ob man von den anderen akzeptiert wird oder nicht, bei ihm ist gar nichts sicher. Er eckt überall an, in seiner Firma, bei den Eltern, bei der Polizei.
Robert hat Andy nicht angerufen, hat ihm nicht gesagt, was er ihm sagen wollte, weil er nicht weiß, wie er es ihm sagen soll, in Wahrheit wohl eher, weil er nur allzu gut weiß, was in der Clique geht und was nicht, dass man einen wie Andy nicht tröstet, ihm nicht Mut zuspricht, ihm schon lange nicht sagt, dass man ihn bewundert, weil er dem Kellner, dem Schwein, gezeigt hat, dass er sich nicht alles erlauben kann. Aber Andy hat geweint, als er bei der Polizei aus dem Zimmer kam und seinen Bruder Gregor im Arm hielt, hat er geweint. Der große, starke Andy, den nichts erschüttern kann, der immer weiß, was zu tun ist …
Marita sagt, der Andy sei ein Kindskopf. Aber das sagt sie nur, weil auch sie nicht schlau wird aus ihm, weil sie darunter leidet, dass er überall aneckt, weil sie Angst hat um ihn. Ein Kindskopf ist er nicht, er tut sich nur schwer, mit sich und mit dem Leben. Wie Robert.
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen … Wenn man lange genug mit weit geöffneten Augen ins Dunkel
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