Die schönste Zeit des Lebens
an der Wohnungstür. Robert erschrickt. Als er öffnet, ist es der Hausmeister.
Ach, Sie sind es, sagt er. Ich habe Schritte gehört, da dachte ich, ich seh mal lieber nach. Aber wenn Sie es sind …
Er wendet sich um, will schon wieder gehen, kommt dann aber doch noch einmal zurück: Ich habe schon davon gehört. Gratuliere. Werden Sie jetzt hier einziehen?
Ich weiß noch nicht, sagt Robert. Ich wollte mich nur mal umsehen.
Kurz nach vier kommt Robert nach Haus. Es ist niemand da. Der Vater ist auf dem TSV-Platz, wo ein Jugendturnier stattfindet. Eine halbe Stunde später kommt die Mutter. Sie hat das Sommerkleid an, das Robert neulich zum Reinigen gebracht hat, ihre Lippen sind rot geschminkt.
Du bist schon da?
Ja, sagt Robert. Heute konnte ich eher Schluss machen.
Die Mutter wirkt nervös, fast ein bisschen verlegen. Sie verschwindet im Badezimmer, und als sie kurz darauf wieder herauskommt, sind ihre Lippen ungeschminkt und statt des Sommerkleids trägt sie wie meistens einen grauen Rock und eine weiße Bluse.
Am Abend, als der Vater vor dem Fernseher sitzt, kommt sie in Roberts Zimmer. Robert liegt auf dem Bett und liest. Sie setzt sich auf die Bettkante, streicht ihm mit der Hand durchs Haar.
Geht’s dir gut?
Ja, sagt Robert. Warum sollte es mir nicht gut gehen?
Na, dann …
Schweigen. Eigentlich ist das Gespräch zu Ende, aber dann, nach einer ganzen Weile, fragt die Mutter doch noch etwas.
Was war das für ein Brief neulich vom Amtsgericht?, fragt sie.
Vom Amtsgericht?
Ja, ich hab ihn dir ins Zimmer gelegt.
Ach, nichts Besonderes, sagt Robert. Es ging um die alte Frau, die gestorben ist. Das hab ich dir doch erzählt. Der Hausmeister und ich haben sie gefunden. Sie brauchten da von mir noch eine Unterschrift.
49
ES WIRD REGEN GEBEN , sagt der Vater. Man hört die Glocken von St. Georg.
Sie sitzen auf der Veranda beim Sonntagsfrühstück. In der Ferne tatsächlich Glockenläuten. Robert hat schlecht geschlafen. Zwei- oder dreimal ist er in der Nacht aufgewacht, schweißnass von einem Traum, an den er sich hinterher nicht erinnern kann. Er sitzt stumm vor seinem Kaffee, ein angebissenes Brot auf dem Teller. Auf dem Rasen ganz nah eine Amsel, schwarz mit orangenem Schnabel, hüpft mal in die eine, mal in die andere Richtung, dreht den Kopf, äugt herüber, hüpft, hin, her. Sinnlos, planlos. Fünf, sechs Hüpfer in die eine Richtung, fünf, sechs in die andere.
Hast du keinen Hunger?
Das ist die Mutter, sie sitzt an der Stirnseite des Tisches, ihre Stimme in der Stille: wie das Tuten eines Dampfers im Nebel.
Robert beißt von seinem Brot ab, kaut, nimmt einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Die Luft ist wie Glas, kein Wind, keine Bewegung, nur eine leichte Trübung oder Brechung vielleicht. Sogar die Amsel jetzt wie erstarrt, den Kopf ein wenig schräg, das Gefieder matt glänzend. Und mitten hinein in diese lähmende Stille jetzt die Stimme des Vaters.
Heute geh ich nicht auf den Platz, sagt er. Das Spiel der Ersten ist abgesagt worden.
Diese zähe, sich wie ein klebriger Film über alles legende Stille. Totenstille, denkt Robert. Und wenn die Gräber sich öffnen und der Tanz beginnt? Wenn die Gräber sich öffnen … Welcher Tanz? … Was geht ihm da im Kopf herum? … Alles nur Phantasterei. Weit und breit nichts zu sehen, was den Frieden stören könnte.
Das passt gut, sagt die Mutter. Du weißt ja, heute Abend gehen wir mit Fred ins Konzert.
Was für ein Konzert?
Die Frage ist Robert wider Willen herausgerutscht, so überrascht ist er. Solange er zurückdenken kann, sind die Eltern nie in ein Konzert gegangen.
Ronny Weigand, sagt die Mutter. Fred hat Karten besorgt.
Hm.
Der Name sagt Robert nichts, aber er hat keine Lust nachzufragen, wer dieser Ronny Weigand ist.
Und wo?
Na, in der Stadthalle, sagt die Mutter. Fred holt uns gegen sieben mit dem Wagen ab.
50
ROBERT MUSS ZWEIMAL KLINGELN , bis bei den Sahabis geöffnet wird.
Ah, der Reggae-Fan!
In der Tür steht Faris Bruder Faraj, grinst und winkt Robert mit übertriebener Gestik herein. Im Flur hinter ihm Fari, im Bademantel, blass, sie versucht ein Lächeln.
Bist du krank?, fragt Robert und ergreift ihre Hände.
Die ist nicht krank, sagt Faraj im Vorbeigehen. Die hat ihre Tage, Mann.
Robert spürt, wie er rot wird. Es ist ihm peinlich, vor allem aber ärgert er sich, dass dieser Faraj ihn wie einen kleinen dummen Jungen behandelt.
Komm, wir gehen nach oben, sagt Fari.
Oben in Faris Zimmer legt sie sich gleich
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