Die schönste Zeit des Lebens
schaut, ist es, als gäbe es die Welt gar nicht. Vielleicht ist das, was wir die Welt oder das Leben nennen, nur eine endlose Reihe von Bildern im Kopf eines bösen Dämons, der sich aus Langeweile all das ausdenkt, der die Dinge und die Lebewesen mal hierhin, mal dahin stellt, und wenn er keine Lust mehr hat, schmeißt er alles um, und wir müssen dann sehen, wie wir mit dem Durcheinander zurechtkommen.
Robert liegt auf dem Rücken auf seinem Bett und starrt in die Schwärze der Nacht. Ein Schachbrett, riesig, von Horizont zu Horizont erstreckt es sich, gleißend in der tief stehenden Sonne. Darauf verstreut die Freunde, Max, Tom, Sebo, Marita und Andy, dazu Herr Wesendonk und Frau Stechapfel und Frau Abel, der Kellner aus dem Café Sandmann und der Polizist, der Robert zu dem Unfall mit der Zeitungsausträgerin befragte, sie alle bewegen sich auf vorgeschriebenen Bahnen, mit geschlossenen Augen machen sie tastende Schritte in unterschiedliche Richtungen. Ihre langen Schatten bewegen sich immer mit. Fari steht am Rande, sie trägt eine Krone auf dem Kopf, neben ihr Roberts Vater und Mutter, gespannt verfolgen sie das Treiben. Ein wenig abseits von der Gruppe Frau Sternheim. Aber sie schaut nicht zu den anderen, hinter der Brille sind ihre riesigen Augen direkt auf Robert gerichtet.
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ALS ROBERT AM SAMSTAG früh kurz vor neun das Büro der Altenhilfe betritt, hat Frau Stechapfel schon auf ihn gewartet.
Heute ist alles ganz anders, sagt sie. Mit Frau Welach habe ich schon telefoniert. Die muss heute mal allein zurechtkommen. Dafür übernimmst du die beiden Rommerskirchens.
Auch das noch! Robert verdreht die Augen. Die Geschwister Rommerskirchen, das wissen alle, die bei der Altenhilfe arbeiten, sind für jeden Betreuer eine Zumutung. Sie wohnen im selben Haus, aber in getrennten Wohnungen, Berta Rommerskirchen, 81, im dritten Stock, ihr Bruder Walter, 74, darunter. Und sie sind verfeindet, bis aufs Blut verfeindet, allem Anschein nach von Kindheit an.
Wenn du zu ihm gehst, sag bloß nicht, dass du gerade von seiner Schwester kommst, sagt Frau Stechapfel. Sonst ist gleich wieder die Hölle los.
Kunze, Kossick, Rommerskirchen B., Rommerskirchen W., so steht es an der Tafel unter Roberts Namen. Frau Kunze und Frau Kossick kennt Robert schon. Sie erwarten im Grunde nur, dass er für sie einkauft, wechseln ein paar Worte mit ihm und sind froh, wenn er nach einer halben Stunde wieder geht und sie in Ruhe die Vormittagssendungen im Fernsehen verfolgen können.
Wenn du einen Führerschein hättest, könntest du das Auto von Herrn Wesendonk nehmen, sagt Frau Stechapfel. Dann wärst du eher fertig.
Ist schon okay, sagt Robert. Mit dem Fahrrad geht es auch.
Als er kurz nach elf Uhr bei Berta Rommerskirchen klingelt, nimmt Robert sich fest vor, sich um keinen Preis aufzuregen. Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit, so weit es die Kette zulässt.
Was wollen Sie?
Ich komme von der Altenhilfe, sagt Robert.
Und warum kommt der Herr Wesendonk nicht selbst?
Herr Wesendonk ist auf einer Fortbildung, sagt Robert.
Fortbildung? Was soll denn der noch lernen in seinem Alter? Das ist doch nur wieder eine Ausrede.
Nach kurzem Zögern hakt sie die Kette aus und lässt Robert eintreten.
Fortbildung! Frau Rommerskirchen kann sich immer noch nicht darüber beruhigen. Und jetzt schicken sie mir einen grünen Bengel als Ersatz. Schöne Altenhilfe ist das!
Robert bleibt ganz ruhig, lässt sich nicht provozieren.
Was kann ich für Sie tun, Frau Rommerskirchen?
Sie? Sie können gar nichts für mich tun. Setzen Sie sich hin, ich habe Ihnen was zu sagen.
Und nun geht es los, wie eine Sturmflut bricht eine endlose Suada über Robert herein. Erstens: die Jugend, die keinen Respekt mehr vor den Älteren habe, sich nur noch amüsieren und nichts mehr lernen wolle, zweitens: der Staat, der die alten Menschen als lästige Kostgänger betrachte, ihre Pensionen kürze und ihnen eine ausreichende medizinische Betreuung verweigere, damit sie früher sterben und ihm nicht länger auf der Tasche liegen, drittens und vor allem: die Schandtaten des Bruders. Robert hört sich alles schweigend an, macht ab und zu einen beschwichtigenden Einwurf, den Frau Rommerskirchen jedes Mal mit einer ungeduldigen Handbewegung wegwischt.
Ob man in der Altenhilfe überhaupt wisse, was da unten für Weibsbilder verkehrten?
Wenn Sie nachher runtergehen zu ihm, sagt sie, dann schauen Sie sich mal die Videokassetten an, die links neben dem Fernseher stehen.
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