Die schönste Zeit des Lebens
wieder ins Bett und gibt ihm ein Zeichen, sich zu ihr auf die Bettkante zu setzen.
Mein Bruder, sagt sie, ist immer so ruppig. Aber im Grunde meint er es nicht bös.
Robert nickt. Fari nimmt ihren Bruder in Schutz, klar. Damals, als er sich bei dem Abendessen so arrogant benahm, hat sie ihn hinterher auch in Schutz genommen. Das ist normal. Würde er auch tun, wenn er einen Bruder hätte.
Ach, das macht mir nichts aus, sagt er.
Robert setzt sich auf das Bett, greift nach ihrer Hand. Sie fühlt sich kalt an.
Gut, dass du heute keinen Nachtdienst hast, sagt er.
Und du? Haderst du immer noch mit deinem Schicksal?
Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Ich weiß ja nicht einmal, was das ist.
Fari schaut ihn lange prüfend an. Sie wird nicht schlau aus ihm. Je länger sie sich kennen, umso fremder ist er ihr. Wenn sie miteinander sprechen, kommt es ihr so vor, als weiche er ihr aus, schlüpfe mal in diese, mal in jene Verkleidung. Oder sie versteht ihn nicht, vielleicht meint er etwas ganz anderes, vielleicht ist das, was er sagt, gar nicht das, was er eigentlich sagen will … Sie schlägt die Bettdecke zurück, steht mit einem kleinen theatralischen Seufzer auf und ergreift ein Päckchen, das auf der Fensterbank liegt.
Dein Geschenk, sagt sie. Das hätte ich jetzt beinahe vergessen.
Ein dickes Notizheft, schwarz, mit einem schwarzen Gummiband zu verschließen, dazu ein schwerer, metallener Kugelschreiber.
Das Notizbuch, sagt Fari, ist dasselbe, das der Schriftsteller George Orwell im Spanischen Bürgerkrieg für seine Aufzeichnungen benutzt hat. Du kannst darin alles aufschreiben, was dir einfällt. Und wenn du Lust hast, liest du es mir dann vor.
Danke, sagt Robert, beugt sich zu ihr hinunter und küsst sie auf die Stirn.
Für einen kurzen Moment ist er überwältigt von Zärtlichkeit für sie.
Aber dann, ganz plötzlich ein Stich in der Magengegend. In ihm krampft sich alles zusammen, als hätte sie eine offene Wunde berührt. Und wenn du Lust hast, liest du es mir dann vor … Er hätte ihr nichts von den Gedichten erzählen sollen. Jetzt denkt sie womöglich, er sei selbst so etwas wie ein Dichter, schreibe heimlich Gedichte und Geschichten. Alle um ihn herum haben eine genaue Vorstellung davon, wer und was er ist oder was er sein sollte, nur er selbst hat keine Ahnung. Fast körperlich spürt er die an ihn gerichteten Erwartungen: Den Robert wirft so leicht nichts um, der Robert wird Ingenieur, der ist Reggae-Fan, der liest Gedichte, macht sich Gedanken über das Leben, und was ihm dazu einfällt schreibt er in sein Notizbuch.
Was ist mit ihm los? Es gibt keinen Menschen, der ihm lieber ist als Fari. Wenn sie sich ein paar Tage nicht sehen, vergeht er vor Sehnsucht nach ihr. Und dennoch würde er jetzt am liebsten wieder gehen, nach Haus fahren, seine Isomatte holen und die Nacht über in Frau Sternheims Wohnung bleiben. Allein, mit ihren Büchern und seinen Gedanken. Aber natürlich wäre Fari gekränkt, wenn er gleich wieder ginge. Das sähe ja so aus, als sei es ihm nur um das Geschenk gegangen.
Der Kellner, sagt Robert, hat den Andy angezeigt. Er will ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld.
Oje, sagt Fari. Dann wird das wohl nichts mit unserer Reise nach Kroatien.
Ich glaube, die können wir vergessen, sagt er.
Robert?
Er schaut auf, sieht ihren fragenden Blick.
Ja?
Diese Frau Sternheim, sagt Fari, die hat dir viel bedeutet, nicht wahr?
Robert zuckt zusammen. Wie kommt sie jetzt darauf? Als könnte sie seine Gedanken lesen. Er will das nicht, dass sie in ihn hineinschaut, seine geheimsten Gedanken liest. Er möchte nicht über Frau Sternheim reden, nicht mir ihr und mit niemand sonst. Er möchte … Was möchte er? Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er Zeit braucht, um es herauszufinden.
Frau Sternheim, sagt er. Frau Sternheim ist tot.
51
EGON MARKMANN HAT SICH nach dem Mittagessen wie jeden Tag auf die Couch im Wohnzimmer gelegt. Irgendwann wacht er auf, stellt den Fernseher an: Damen-Tennis. Eine Weile schaut er zu, wechselt zu einem anderen Kanal, schließlich macht er den Fernseher wieder aus. Er liegt auf der Couch, weiß nicht recht, was er mit sich und dem Nachmittag anfangen soll. Edith hat in der Küche Ordnung gemacht, dann Hemden gebügelt und dabei Radio gehört. Es ist gegen drei, als das Telefon klingelt. Sie geht in den Flur, hebt ab: Du?
Es ist Werner, der nicht weiß, dass Egon heute nicht auf dem Sportplatz zu tun hat. Ob sie Lust hätte, bei ihm vorbeizukommen.
Es
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