Die Schokoladendiät
heißt das jetzt Speisetreffpunkt für Unterprivilegierte und wird mit einem Äquivalent für Michelin-Sterne bewertet. Eigentlich ist das hier eher Autumns Revier. Und bestimmt hätte ich sie bitten können, den Kontakt für mich anzubahnen – sie kennt hier garantiert eine Menge Leute –, aber ich wollte die Mädels nicht einweihen. Sie hätten sonst nur versucht, mir mein Vorhaben auszureden. Also habe ich einfach im Internet das Suchwort «Obdachlose» eingegeben, mich über ehrenamtliche Organisationen informiert und die Leute dort angerufen. Die waren mehr als glücklich, dass ich kommen und helfen wollte. Und warum auch nicht. Ein paar Teller mit Essen füllen, das kann schließlich jeder Depp.
Das dreigängige traditionelle Weihnachtsmenü wird in einem baufälligen Kirchengemeindesaal nicht allzu weit von meiner Wohnung serviert. Falls diese Einrichtungen tatsächlich mit Sternen bewertet werden, dürften hier für Ausstattung nicht allzu viele drin sein. Es sei denn, es ist jetzt der letzte Schrei, dass die Farbe von den Wänden blättert. Als ich ankomme, riecht es nach gebratener Pute und ungewaschenen Kleidern. An den Reihen improvisierter Tische sitzen die unterschiedlichsten Leute, von unterernährten Halbwüchsigen mit Pizzagesichtern bis zu alten Vagabunden mit verfilztem Haar und ganzen Kartoffeläckern voll Dreck unter den Fingernägeln. Ich stelle erschüttert fest, dass jeder einzelne Platz besetzt ist und noch massenhaft Leute darauf warten, dass Plätze frei werden. Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Menschen gibt, die Weihnachten niemanden haben.
«Ach, da bist du ja, mein Schatz. Wie schön, dass du dabist.» Noch bevor ich mir eingestehen kann, dass es mich doch überfordert, ein paar Teller mit Essen zu füllen, und ganz schnell das Weite suchen will, reicht mir eine stattliche Frau eine Schöpfkelle und eine rote Weihnachtsmannmütze. Sie ist so gut drauf, dass ich meine Weinerlichkeit herunterschlucke und nicht anders kann, als ihr Lächeln zu erwidern. Auch ich kann angesichts kleinerer Widrigkeiten fröhlich bleiben. Okay, vielleicht bin ich allein und unglücklich, aber ich kann doch für sehr viel mehr dankbar sein als diese Leute hier. «Gib jedem erst einmal einen ordentlichen Teller Suppe als Vorspeise», trägt sie mir auf. «Es ist genug für alle da.»
Mit einem Gefühl leichter Benommenheit verstaue ich meine Handtasche an einem sicheren Ort und nehme meinen Platz in der Essensausgabe ein. Gerade will ich mich in meine neue Rolle als selbstlose ehrenamtliche Kraft mit fröhlichem Naturell stürzen, als jemand meinen Namen ruft.
«Lucy!» Ich fahre herum. Ich hatte nicht erwartet, dass mich hier irgendjemand kennen würde. Was streng genommen die Voraussetzung ist, warum ich überhaupt hier bin. Drei Leute weiter in der Essensausgabe entdecke ich Clive, ebenso wie ich mit einer Kelle in der Hand. «Was machst denn du hier?»
Ich tausche die Plätze, schiebe eine silberhaarige Dame im Twinset und einen Mann mit Kordjacke und Sandalen zur Seite, bis ich unmittelbar neben meinem Freund stehe. «Dasselbe wie du, nehme ich an.»
«Der Gedanke, heute ganz allein zu sein, war einfach unerträglich», gibt Clive zu, während wir die Suppe an die dankbaren Empfänger austeilen. «Und hier, dachte ich, kann ich mich wenigstens nützlich machen.»
«Große Geister denken eben gleich.»
«Wie konnte es mit uns nur so weit kommen?», möchte Clive wissen. «Wir sind doch nette Menschen, oder? Warum will keiner mit uns zusammen sein?»
«Du hast nichts von Tristan gehört?»
Clive zuckt traurig mit den Schultern. «Kein Wort.»
«Dann lass uns den Rest des Tages gemeinsam verbringen, wenn wir hier fertig sind», schlage ich vor. «Ich habe Champagner zu Hause, Schokolade, eine große Auswahl an Fertiggerichten und ein paar total bescheuerte Brettspiele.»
Clive umarmt mich, und meine Lebensgeister regen sich wieder. «Klingt wundervoll.»
Als das Essen ausgeteilt und der Abwasch erledigt ist, setzen sich die verbliebenen ehrenamtlichen Helfer gemeinsam zum Essen hin. Die Pute ist inzwischen ein bisschen trocken und die Bratkartoffeln eher labbrig, aber unter gemeinsamem Gelächter rutscht das Essen leicht herunter und schmeckt eigentlich gar nicht schlecht.
Als Clive und ich uns gerade einen matschigen Rest Weihnachtspudding mit etwas in sich zusammengefallener Sahne schmecken lassen, klingelt sein Handy. «Es ist Tristan», flüstert er mir zu, steht vom Tisch auf
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