Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
dran?«
Frau Karst schluchzte, sagte nochmals: »Das sollte doch umsonst sein!«
Wie auf der Kirmes, dachte Sascha jetzt mit mühsam unterdrücktem Zorn, auch des Verhaltens seines Chefs wegen, der ihm offenbar
misstraute. Warum, in Gottes Namen, hatte man ihn in die Kanzlei bestellt, statt die Polizei zu rufen? Klar, damit es nicht
heißt, man serviere hier kleine Leute ab, nachher steht wieder irgendwas in der Lokalpresse usw.
»Frau Karst«, sagte Sascha, »ich habe Sie ausführlich über die Risiken unterrichtet, bevor wir einen Prozess anstrengten,
der tatsächlich …«
»Du lügst!«, rief Frau Karst.
Sie duzte ihn. Auch das noch. »Sie duzen mich?«, fragte |147| Sascha. Dann rief er: »Ich lüge nicht.« Er zitterte jetzt ein bisschen.
Der Chef seufzte.
»Halsabschneider!«, rief Frau Karst. Ihr Kleid spannte. Und: »Du Lügner!«
So also kam eins zum anderen.
Jedenfalls war der Chef sehr bestürzt, dass er seinen Mitarbeiter, dem er erst kürzlich das Du angeboten hatte, unter Aufbietung
seiner gesamten Leibeskraft davon abhalten musste, auf Frau Karst mit erhobener Faust loszugehen. Zuvor waren noch während
des sehr ausufernden, einem Konsens keineswegs zustrebenden Wortwechsels die schmählichsten Beschimpfungen in seinem traditionsreichen
Haus zu hören gewesen, was ihn noch heute, wenn er daran zurückdenkt, empfindlich erschaudern lässt.
Am nächsten Tag war man in der Kanzlei wieder zum Sie übergegangen.
Frau Karst aber war Wochen nach dem Zwischenfall, während dem sie übrigens gedroht hatte, einen Fernsehsender auf den Fall
anzusetzen (»Wir lassen uns doch nicht verarschen!«, hatte sie gesagt), sehr zufrieden, dass keine Mahnungen die Familie mehr
behelligten. Sie sagte zu ihrem Mann, der wie immer mit großer Seelenruhe vor dem Fernseher saß, dass ihr kluger Sohn schon
manchmal recht habe. Eine Reise tue ihr hin und wieder richtig gut.
PS: Da die Maxime dieser Geschichte so offen auf der Hand liegt, haben wir verzichtet, sie gegen Ende ausführlich zu |148| erläutern. Nur soviel sei gesagt: Es ist weitaus schwieriger (und kunstreicher), jemanden in Rage zu versetzen, als auf eine
derartige Provokation angemessen zu reagieren; sofern man, das aber ist die Voraussetzung, erlernt hat, seine Affekte zu kontrollieren.
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|149| 24 HÖFLICHKEITEN AUSTAUSCHEN
E s gibt durchaus Menschen, die auf die Frage, wie es ihnen gehe, antworten: »Das interessiert dich doch gar nicht!« Oder die
gar sagen: »Vor einer Woche hat mich mein Mann verlassen, seither trinke ich jeden Tag eine Flasche Rotwein, und mein Chef
hat mich darauf hingewiesen, dass ich immer eine Fahne habe. Mir geht es schlecht.«
Welch rücksichtslose, rohe Aufrichtigkeit! Nein, da hält man sich lieber an angelsächsische Gepflogenheiten und antwortet,
gefragt, wie es einem gehe, ganz schlicht: »Gut!«
Wer, die Zeit vergessend, wenige Sekunden nach Ladenschluss noch in einer Buchhandlung herumbummelt, an den pirscht sich sogleich
eine Verkäuferin heran und sagt, dass man jetzt schließe. Nicht einmal unfreundlich sagt sie das, aber geradeheraus, und niemals
käme sie auf die Idee, mit größter Zurückhaltung zu sagen, was anderswo durchaus Sitte ist: »Sir, is there anything else I
can do for you?«
Höflichkeit schafft Distanz zwischen den Menschen, sie ist das Bollwerk gegen ihre verletzende Offenheit, sie adelt ihre unüberwindbare
Fremdheit. Und da man mit Fremden vor allem an den Höfen der Welt und in den Großstädten konfrontiert war, beide Soziotope
sich hierzulande |150| aber nur zögerlich herausgebildet haben, gilt Deutschland, was Höflichkeit anbetrifft, bis heute als ein wenig rückständig.
Weshalb höflich sein? Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat, um die moderne Gesellschaft zu beschreiben, die Geschichte der
Stachelschweine erzählt. Es drängen sich die armen Tiere an einem kalten Wintertag aneinander, doch kaum kommen sie sich nahe
mit ihren furchtbar stacheligen Körpern, verletzen sie sich. Entfernen sie sich weit voneinander, dann drohen sie zu erfrieren.
Halbwegs gut geht es ihnen erst, wenn sie eine »mäßige Entfernung« zueinander gefunden haben. Die Stachelschweine in dieser
kleinen Erzählung sind natürlich wir Menschen, all unsere widerwärtigen Eigenschaften ertragen wir nur in einer »mittleren
Entfernung«.
Die meisten Höflichkeiten tauschen wir mit der größten Selbstverständlichkeit aus, etwa den Morgengruß. Man
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