Die schottische Rose
DeFleurilles, Juliets Gesellschafterin, schien sich an einem Bissen Lammeintopf verschluckt zu haben. Sir Archibald betrachtete stirnrunzelnd das gerötete Gesicht der jungen Adligen. Oder machte sie sich etwa über ihn lustig?
Unerhört! Niemand lachte über den Laird von Grant Castle! Sir Archibald stellte den Humpen ab und beugte sich auf seinem prächtigen, geschnitzten Stuhl mit den Füßen aus Löwenköpfen vor. Nanette hütete sich tunlichst, ihn anzusehen.
Er ließ den Blick über die anderen Anwesenden an der Tafel gleiten. Seine Gemahlin Lady Hester hatte ihre Miene wie immer vollkommen in der Gewalt, obwohl ihre braunen Augen verdächtig funkelten. Seit sich das Gerücht bestätigt hatte, der nominelle schottische König Jakob werde nach achtzehn Jahren endlich aus englischer Haft entlassen, und seine Widersacher ihre Kräfte sammelten, hatten die Probleme, die Sir Archibalds geliebtes Schottland beutelten und auf seinen massigen Schultern lasteten, seinen Humor beinahe gänzlich erstickt.
Jetzt jedoch musste sich Sir Archibald zusammennehmen, um nicht über den Tisch zu greifen und in aufmunterndem Einverständnis die Hand seiner geliebten Gemahlin zu drücken. Stattdessen betrachtete er die beiden anderen Männer an der langen Tafel im Großen Saal von Grand Castle. Das heißt, eigentlich handelte es sich nur bei einem um einen Mann. Der andere war William von Grant, Sir Archibalds jüngster Sohn. Er betrachtete Juliet de Germont neugierig und ein wenig schwärmerisch. Der Patriarch des Grant-Clans unterdrückte einen Seufzer. Er wusste, wie vergeblich diese jugendliche Verehrung war.
Lady Juliet de Germont mochte zwar erst knapp vierundzwanzig Jahre zählen, aber schon bald, nachdem die Abgesandte von Joan Beaufort, der Frau des schottischen Kronprinzen, vor vier Monaten auf Grant Castle eingetroffen war, hatte Sir Archibald erkannt, welch scharfer Geist und eiserner Wille sich hinter dem einnehmenden Wesen dieser jungen Frau und ihren schönen Zügen verbargen. Seit ihrer Ankunft hatte sie ihn immer wieder verblüfft. Sie ließ sich weder von seinem bärbeißigen Wesen einschüchtern, noch blieb sie ihm eine Antwort schuldig. So viel Selbstbewusstsein hatte er bisher nur bei wenigen Frauen erlebt, abgesehen von seiner geliebten Gemahlin, natürlich. Lady Hester jedoch verzichtete gewöhnlich rücksichtsvoll darauf, mit ihm in aller Öffentlichkeit zu diskutieren oder ihm gar vor anderen zu widersprechen.
Juliet de Germont dagegen scheute sich keineswegs, ihre eigene, abweichende Meinung zu äußern, auch wenn sie dies mit einem höchst charmanten Lächeln tat. Andererseits verwunderte das Sir Archibald nicht. Er kannte zwar die Gemahlin des Kronprinzen, Joan Beaufort, nicht persönlich, aber er hatte einiges über sie gehört. Sie war als Enkelin des Herzogs von Gaunt, dem Sohn Edwards III . und Ratgeber Richards II ., ebenso weltgewandt wie in Fragen der Politik bewandert und hätte gewiss kein schüchternes Edelfräulein auf eine solch heikle Mission geschickt.
Genau diese Mission jedoch war angesichts der Anwesenheit der sechsten Person an der Tafel der Grund, warum Sir Archibald das alberne Gerede seines Kutschers über Kentauren und Elfen wiederholt hatte. Er wollte verhindern, dass sich Juliet vor ihrem Gast zu selbstsicher und überlegen gab. Er streifte den Mann am Ende der Tafel mit einem unauffälligen Blick.
Sir Rupert von Atholl, der jüngste Enkel von William Stewart, dem Earl von Atholl, ließ sich jedoch nicht anmerken, ob Juliets Verlegenheit seine Einschätzung der jungen Adligen in irgendeiner Weise beeinflusste. Grimmig gab Sir Archibald zu, dass der junge Stewart sich vollkommen in der Gewalt zu haben schien. Jetzt ergriff dieser das Wort, noch bevor Sir Archibald das Gespräch auf ein anderes unverfängliches Thema lenken konnte.
»Ich nehme an«, fragte der junge Adlige, »dieser ›Kentaur‹«, wie er das Wort betonte, machte unmissverständlich deutlich, was er von der Existenz solcher Fabelwesen hielt, »war nicht zufällig ein Einhorn, Milady?« Er lächelte, als Juliet ihn einen Moment verständnislos ansah, und schaute dann kurz zu dem Wappen Schottlands herüber, das hoch oben an der Stirnwand über dem breiten Kamin des Großen Saales hing.
Juliet folgte seinem Blick und runzelte unwillig die Stirn, als sie seine Anspielung verstand. Ein mächtiges stolzes Einhorn zierte das Wappen Schottlands. Der Sage nach waren solche Einhörner höchst gefährliche Wesen,
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