Die Schreckenskammer
getroffenen Entscheidung ändern würde. Sollte er ruhig glauben, dass ich Macht über sein Schicksal hatte.
Sein Blick huschte umher, als suche er einen Weg, um vor mir zu fliehen. Aber es gab für ihn kein Versteck; die Wachen waren nur wenige Schritte entfernt, und er würde in Gefangenschaft bleiben, was immer er auch tun mochte.
Ich hielt ihm den Topf hin, und als er sich abwandte, hob ich ihn, bis er ihn direkt unter der Nase hatte.
»Sprecht«, befahl ich. »Sagt mir genau, was mit Michel passiert ist. Lasst nichts aus.«
Nun verließ ihn seine hochnäsige Starre.
»Ihr wisst, Mère, wie sehr ich Michel liebte. Ich betete den Boden an, auf dem er ging; er war alles, was ich selbst sein wollte. Seine helle Haut, sein wunderschönes Lächeln, und diese seine strahlenden Augen – er war ein Engel in Menschengestalt! Wie konnte ich da anders, als ihn zu begehren?
Aber er war gut und rein, und er wehrte meine Annäherungsversuche mit großer Entschlossenheit ab. Bei Jean war es einfacher; er gab mir zumindest zum Teil, was ich wollte, ich hätte ihn noch vollständiger besessen, hätte er sich nicht verweigert. Aber Michel, der süße Michel, er war derjenige, der ich sein und den ich besitzen wollte, doch er gab sich mir nicht hin, gleichgültig, womit ich ihm drohte. Ich sagte ihm dieselben Dinge, die ich Jean sagte, dass ich seinen Vater vernichten würde, wenn er sich nicht fügte. Doch er gab nicht nach; er erwiderte mir, dass sein Vater lieber im Staub kriechen würde, als seinen Sohn geschändet zu sehen, und dass ich tun könne, was ich wolle, er würde sich meinen Wünschen unter keinen Umständen fügen.
Ich hasste und ich liebte ihn zugleich; ich verabscheute seine Halsstarrigkeit und bewunderte seine Charakterstärke, und ich beneidete ihn um einen Vater, der ihn derart liebte, wie meiner es nicht annähernd zu tun schien. Je mehr er sich wehrte, umso entschlossener wurde ich, ihn zu besitzen.
Ich vertrieb Michel aus dieser Welt, Madame, weil ich ihn in ihr nicht haben konnte. Es ist mein ernsthaftester Wunsch, ihn in der nächsten zu treffen, wenn Gott es mir nur gestattet. Ich weiß, dass er Flügel hat und eine Krone aus Licht, wie es ihm zusteht. Inzwischen hatte ich aufgehört, ihn zu bedrängen; er hatte keine Angst vor mir, und es bestand kaum Hoffnung, dass ich unter seiner Mitwirkung meine Wünsche würde befriedigen können. Es herrschte ein zerbrechliches Gleichgewicht zwischen uns, das es uns ermöglichte, Gefährten zu bleiben, zumindest an der Oberfläche. Sollte ich ihn je so besitzen, wie ich wollte, dann nur mit Gewalt. Ich beschloss, dass es mit Gewalt sein sollte, denn ich konnte mich nicht beherrschen. Eines Tages sagte ich ihm, dass ich mit ihm jagen wolle. Zuerst wollte Michel nicht mitkommen; er müsse noch lernen, bevor unser Lehrer käme, sagte er. Aber das war eine fadenscheinige Ausrede, denn unser Lehrer war nach dem Tod meines Vaters in seine Heimatstadt gegangen. Er nahm mir das Versprechen ab, dass ich ihn in Frieden lassen würde, dass ich ihn nicht drängen würde, sich berühren zu lassen, und ich gab ihm mein Wort. Er schien damit zufrieden. Also brachen wir an diesem Morgen mit Messern und Steinschleudern auf, um einen Truthahn zu erlegen. Wegen des Keilers durften wir nie ohne Begleitung hinaus. Doch meine üblichen Hüter waren mit anderen Dingen beschäftigt, und so konnte ich ohne sie entschlüpfen, und Michel mit mir. Dieses Gefühl der Freiheit war sehr erregend für mich, konnte ich doch kaum einen Schritt machen, ohne dass jemand bei mir war, entweder um mich zu überwachen oder meine Wünsche zu erfüllen. Nicht so sehr auf Geheiß meiner Mutter oder meines Vaters, oder auf Eure Anordnung hin, meine liebe Amme, sondern weil mein Großvater es so wollte.«
Er streckte die Hand aus und strich mir über die Wange, mit den kalten Fingerspitzen eines Dämons. Ich rührte mich nicht.
»Wir gingen bis zu dem Eichenhain; der Bach war angeschwollen und schnell, denn es hatte viel geregnet. Die Erde war noch feucht, doch das hemmte unser Fortkommen kaum. Wir waren allein, wie wir es nur selten waren, und obwohl ich ihm mein Wort gegeben hatte, dass ich ihm nicht nahe treten würde, konnte ich offenbar nicht an mich halten. Um die Wahrheit zu sagen, Madame, ich wollte nicht an mich halten. Gott erlöse mich, ich wollte mit ihm dieselben Dinge tun, die mir angetan worden waren, denn ich hatte begonnen, sie als Vergnügen zu betrachten.«
»Aber … von
Weitere Kostenlose Bücher