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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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das, daß Sie auch ihre Eltern kannten?«
»O ja. Es kam schon vor, daß wir Veranstaltungen hatten, wo
die Eltern dabei waren. Besonders zu Weihnachten oder wenn
wir eine Tour geplant haben, und dann natürlich, wenn sie ihren
Pfadfindereid ablegten. In den letzten Jahren haben wir sie nicht
mehr so oft gesehen. Als die Mädchen groß geworden waren,
sozusagen.« Sie zögerte etwas. »Außer …«
»Ja?«
»Als wir das letzte Mal im Pfingstlager waren, das war im
Norden von Radøy, nicht weit von Bøvågen, da kamen Torilds
Vater und Åsas Mutter eines Vormittags zu Besuch.«
»Torilds Vater und Åsas Mutter? War das nicht etwas ungewöhnlich?«
»Nein, denn normalerweise kamen sie immer zusammen, die
vier, aber Åsas Vater war verreist, das hatte man mir schon
vorher gesagt, und Torilds Mutter fühlte sich nicht wohl, also –«
»Und wie haben die Mädchen darauf reagiert?«
»Na ja, gar nicht weiter. Es ist sowieso immer etwas gezwungen, wenn die Eltern zu Besuch kommen. Auch Kinder
brauchen es manchmal, ohne Aufsicht zu sein!«
»Auch Kinder?«
»Ja!« Sie sah mich herausfordernd an.
»Na ja, gut –« Ich nickte ihr aufmunternd zu. »Und weiter?«
»Sie bekamen einen Kaffee, über dem Lagerfeuer gekocht,
wanderten ein wenig durch das Lager und runter zur Bucht, wo
wir immer badeten, und dann fuhren sie wieder. Das war alles.«
»Und im August desselben Jahres trennten sich Torilds Eltern.«
»Oh – das wußte ich nicht. Aber … Da hatten die Mädchen ja
auch aufgehört.«
»Sie können mir also gar nichts erzählen, was die Geschichte
mit Torild irgendwie erhellen könnte?«
»Nein, ich … ich muß zugeben, ich war ganz schön schockiert, als ich es in der Zeitung las, aber … Und wenn es
wirklich stimmt, daß sie irgend was mit diesem Satanismus zu
tun hatte, dann hat sie sich ganz schön weit von der Pfadfinderidee entfernt, im Laufe nicht einmal eines Jahres, das muß ich
wohl sagen dürfen.«
»Wenn ich sagen würde, daß sie mit Drogen zu tun hatte, ja,
vielleicht sogar mit Prostitution – würde Sie das wundern?«
Eine Bewegung kam in ihr Gesicht, ein Ausdruck von Entsetzen, Unglauben und irgend etwas, das ich nicht ganz
entschlüsseln konnte. Als sie endlich antwortete, hatte sie ein
schwaches Vibrato in der Stimme: »Ja, das würde mich wirklich
schockieren, Veum.«
»Haben sie nie Tendenzen in die Richtung gezeigt, als Sie …«
»Sie waren Kinder, Veum!« unterbrach sie mich. »Kinder …«
Sie wendete sich wieder ihrem Monitor zu, als könnte das
Muster darauf ergiebigere Antworten auf meine Fragen geben,
als sie es selbst konnte.
Aber sie blieb stumm. Wenn sie Antworten fand, so übersetzte
sie sie mir nicht.
Ohne sie mit weiteren Fragen zu stören, nickte ich ihr zu und
verließ sie, so leise wie die Zeit, die kam und ging, so leise und
unmerklich wie der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter plötzlich in einem jungen Leben eintreten kann, lange
bevor man es erwartet, und ohne daß man darum gebeten hat.
23
    Die Aussicht auf die Garagen der städtischen Straßenbahn und
die Werkstätten von Mansverk war immer noch dieselbe. Ich
konnte nicht einmal erkennen, ob sie ein paar der Busse umgestellt hatten.
    Nachdem ich bei Astrid Nikolaisen und ihrer Mutter geklingelt
hatte, stand ich da und wartete.
Die Gardinen in den Fenstern waren ganz zugezogen. Erst
nach einer Weile registrierte ich eine winzige Bewegung, als
würde jemand vorsichtig durch den Spalt sehen.
Dann hörte ich drinnen tapsende Schritte, und die Tür wurde
vorsichtig einen Spalt weit geöffnet.
Gerd Nikolaisen sah älter aus als bei meinem letzten Besuch.
Jetzt ging sie mindestens auf die Vierzig zu. Ihr Haar war
diesmal unordentlicher, als sei sie gerade aufgestanden, und sie
trug auch nur einen langen, dunkelroten Morgenmantel. Die
dicke Schminkschicht vermochte die häßliche Schwellung ihres
einen Auges nicht zu verbergen, und die Unterlippe auf der
anderen Seite war so angeschwollen, daß ihr ganzes Gesicht wie
eine tragische Clownsmaske aussah.
Sie betrachtete mich mit toten Augen. »Was gibt’s?«
»Erinnern Sie sich an mich? Ich bin Veum – ich war schon
mal hier, am Don …«
»Ich erinnere mich. Astrid ist nicht zu Hause.«
Sie wollte die Tür schon wieder zumachen, und ich lehnte
mich vorsichtig nach vorn. »Und wo ist sie? In der Schule?«
»Das bezweifle ich.«
»Wo denn dann?«
Sie zuckte matt mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Haben Sie gelesen, was mit Torild

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