Die Schrift in Flammen
Frau Abády heimlich stets ihren Sohn. Sie fragte nicht und erfuhr auch nichts. Doch daraus, dass er so lange Zeit in Klausenburg verbracht hatte, und aus den zuvor schon eingetroffenen Meldungen von Frau Tóthy und Frau Baczó – wer sich wohl in der Stadt aufhalte, und der junge Herr Bálint komme »ja, allerdings!« oft erst bei Tagesanbruch nach Hause –, aus all dem legte sie sich etwas zurecht. Zwar nicht die Wahrheit, doch immerhin so viel, dass Adrienne diese tiefe, noch nie gesehene Trauer verursacht haben musste. Diese böse Frau! Sie hatte ihren Sohn verdorben. Diese böse, böse Frau! Leidenschaftlicher, rachsüchtiger Hass erfüllte ihre kleine, tyrannische Königinseele.
In den letzten Märztagen erreichten sie Budapest, wo sie sich trennten. Frau Róza ermunterte den Sohn mit keinem Wort, nach Hause zu reisen. Nein, er möge nur in Pest bleiben, man brauche ihn jetzt nicht, sie kehre heim nach Dénestornya, erst später, wenn es ganz Frühling werde, erst da solle er kommen … »Zerstreue dich hier, sorge dich nicht um mich!« Und sie verreiste allein, obwohl sie so etwas bisher vielleicht noch nie getan hatte.
Bálint fand in der politischen Welt abermals eine andere Stimmung vor als zuletzt im Februar. Die vorzeitige Auflösung des Parlaments hatte damals das Koalitionslager gebremst, denn mit dem Erlöschen der Mandate ging die Rechtsgrundlage verloren, auf welche sich die Mehrheitsparteien und ihr »Führungskomitee« zuvor bei ihrer Tätigkeit als eine Art von Nebenregierung berufen hatten. »Schlimm! Ein ernsthaftes Hindernis«, sagte man überall, denn die abstrakte juristische Denkweise lag der damaligen Generation dermaßen im Blut, dass die Leute sich ohne rechtliche Begründung nicht einmal eine Revolution vorstellen konnten. Dennoch rechneten damals noch alle mit einem gemeinsamen Widerstand gegen die »Trabanten«, wie man die Regierung Fejérváry nannte. Jetzt, einen Monat später, trauten die Politiker einander nicht mehr. In den eingeweihten Kreisen im Casino hieß es offen, Károly Eötvös und Dezső Bánffy hätten die Sache der Nation verraten, und im Flüsterton wurde das selbst über Ferenc Kossuth behauptet. Gerüchte kursierten, Kossuth führe unter der Hand, hinter dem Rücken der Volkspartei und der Anhänger Andrássys Verhandlungen mit den »Wiener Henkersknechten«. Er wolle auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts, das der arglistige Kristóffy gegen sie als Kampfmittel erfunden habe, ohne die anderen eine Einigung erzielen. Dazu hieß es, Béla Barabás, zusammen mit einem »Privatgelehrten« namens Méray-Horváth, einem Niemand, pendle zwischen dem Innenminister und Kossuth hin und her.
Boten kamen und gingen, sie brachten Nachrichten. Anführer berieten in dunklen Ecken. Worüber sie sprachen, wusste keiner, aber eine Stimmung unruhiger und unheilvoller Erwartung verbreitete sich, der alle unterlagen. Selbst die hochadeligen Damen verloren die Lust an der Tulpen-Aktion, und obwohl sie jeden, der keine Tulpe trug, geringschätzig behandelten, begannen sie doch auch selber – wenn auch vorläufig nur im Geheimen – ausländische Seidenstrümpfe und Wiener Unterwäsche zu kaufen.
Am 5. April platzte schließlich die Bombe. Géza Polonyi läutete mit den Glocken der Politik Sturm, sein Gepolter füllte die Kaffeehäuser und weckte die Mittagsblätter. Ebenso alarmierte er die kleineren Parteien, die man bei den Friedensverhandlungen bisher übergangen hatte.
Frédi Wuelffenstein brachte die Hiobsbotschaft ins Casino. Er stürzte sich unter die Leute, die am Mittagstisch saßen. Er war furchtbar aufgewühlt. »Habt ihr’s gehört?«, brüllte er bereits in der Tür. »Kossuth hat uns verkauft!« Und mit seinen langen Storchenbeinen stelzte er in die bereits überfüllte Glasterrasse. Dort sank er an einem Tisch nieder: »Eine solche Schweinerei! Diese Niedertracht! Kossuth bildet ein Kabinett mit den 48-ern und den Trabanten-Ministern, und uns! Uns, die wir mit ihm Schulter an Schulter auf Leben und Tod gekämpft haben, uns, die wir gegenüber dem Hof das ganze Odium tragen – mich hat in Wien neulich kaum jemand mehr gegrüßt! –, uns lässt man bei der Regierungsbildung links liegen, wir bekommen einen Tritt in den Hintern!«
Die Mittagsgäste, die größtenteils zur Gruppierung um Andrássy und zur Volkspartei gehörten, scharten sich um ihn. Einzig Abády sowie sein Nachbar, Oberstallmeister Antal Szent-Györgyi, blieben gelassen. »Wer sich unter
Weitere Kostenlose Bücher