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Die Schule der Nackten

Die Schule der Nackten

Titel: Die Schule der Nackten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Augustin
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Blatt.
    Jetzt nahm sie eine ganz vertrakte Stellung ein. Sie stützte sich mit beiden Ellenbogen auf, lag aber nicht auf dem Bauch,, sondern mit dem Unterteil seitlich verdreht und mit angezogenen Beinen, so daß sie mir eine volle Breitseite zuwandte. Dabei machte ich eine Feststellung, daß nämlich das Gesicht den Körper widerspiegelt und umgekehrt, ein Gemeinplatz natürlich, der aber bei der Dame wunderbar zutraf: Sie hatte ausgeprägte Backenknochen, ich meine, auch vor den Hinterbacken, die sie mir zuwandte, hatte sie welche. Zwei gewaltige Steißbeine, wie bei einem Wasserbüffel.
    Ich rührte mich vorsichtig, aber nicht viel, ich deckte die Situation sozusagen mit mir selber zu - jedenfalls hätte ich auf keinen Fall aufstehen können. Jetzt legte sich die Dame flach auf den Rücken, hielt die Zeitung waagerecht nach oben, gen Himmel, las über längere Zeit anscheinend noch einen dritten Leitartikel, wobei sie die Knie hin- und herschwenkte. Dann schlug sie aufs Blatt.
    So ging das volle zwei Stunden lang, und ich darf sagen, daß ich in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal hochzublicken wagte, denn - man muß sich das Ganze mit Angst und Schrecken vorstellen - in jeder erdenklichen Lage, ob vorne oder hinten, ob oben oder unten, ob vertrakt verdreht oder plan auf dem Rücken, das Ding war nicht unterzukriegen! Ganz gleich, im Sitzen oder Liegen, immer war es präsent, es war anscheinend nicht zu vermeiden. Die Dame schlug aufs Blatt, und das Ding kroch heraus.
    Ich sagte mir: «Dieses mußt du durchstehen, da hilft kein Heulen und kein Zähneklappern, kein noch so tiefes Erdloch, in das wir kriechen könnten. So ist die Dame eben.»
    Obwohl.
    Ich möchte es einmal so ausdrücken: Es handelte sich um ein Eigenleben, das hier stattfand - da war eigentlich niemand zuständig -, ein Eigenleben, das sich um jeden Preis selbsttätig vorarbeitete. Hatte ich Tüte gesagt? Es war keine Tüte, jetzt habe ich den richtigen Vergleich: Ein kleines Maul war es, das so aussah, als ob es sprechen könnte.
    Und bei alledem - das ist nun das letzte, was ich noch dazu sagen möchte - blickte mich die Dame niemals direkt an. Immerhin befanden sich nur achtzig Zentimeter zwischen uns, und das kleine Maul sprach genau in meine Richtung, aber die Dame selbst, nein, kein Blick. Schaute hoch zum Himmel und tief in die Erde, schaute auch nach vorn und eine Handbreit an mir vorbei. Ich hätte winken können «hallo!», aber kein Lächeln.
    Doch.
    Nach Ablauf der zwei Stunden stand sie ziemlich abrupt auf und zog sich an. Und dann lächelte sie mir plötzlich ganz kurz zu, jawohl, es war ein Lächeln, das in dem unschönen Gesicht furchtbar aussah (ich habe mich gefürchtet), und sagte «dankeschön». Aber mehr so in die Gegend hinein, so allgemein, so daß man nicht wußte, meinte sie die gesamte Population. Im Jakobi-Bad. In München. Im Sommer.
    Ich habe sie nie wiedergesehen. Wahrscheinlich hatte sie einen anderen Liebhaber in einem anderen Schwimmbad gefunden.

5

    Es gibt eine Erinnerung in mir, die eigentlich keine Erinnerung ist, weil ich niemals dort gewesen sein kann. Trotzdem sehe ich den Strand vor mir, jedes Steinchen, jedes angeschwemmte Stückchen Holz. Ich sehe, es ist ein breiter Strand mit merkwürdig steil zum Wasser abfallendem Rand, und die Brandung weiter draußen ist gefährlich, ich weiß, daß sie gefährlich ist, so als ob ich dort schon einmal ertrunken wäre. Vielleicht ist es auch nur die Erinnerung an einen Traum, den ich so oft geträumt habe, daß ich ihn nicht mehr abtrennen kann. So wie mit dem frühen Siegesmund Rüstig geschehen: Er sitzt immer rechts im Boot (nicht links), für immer und alle Zeiten.
    Auf dem Hang verläuft ein gelber Weg, geschlängelt, läuft in Windungen um die runden Felsen herum, die rötlichbraun und schwarz eingelassen sind. Es ist heiß. Es ist immer heiß in dieser Erinnerung, die Sonne sticht, und dennoch herrscht eine Dunkelheit wie ein Mantel – – – und hinterläßt Sehnsucht.
    Wer weiß, wo sie herrührt. Das verschlungene Muster des gelben Weges ist einem Schriftzug nicht unähnlich, einer Mitteilung. Die mich angeht? Wir lagern hier im Schatten des Holunderbusches und führen ein angenehmes Gespräch - mein gebildeter Freund und ich -, es ist ein stiller grüner Vormittag, luftig und erholsam.
    «Ja, es widerfährt einem gelegentlich», sagt mein Freund mit der goldgefaßten Brille, «was kann es sein, welche Bedeutung liegt in solchen

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