Die Schule der Nackten
noch einmal an, die nur in Marseille gekocht werde, sei ein feines Kunstwerk, bestehend aus sechserlei Fischsorten, Krusten- und Schalentieren, einer Menge Zutaten wie Fenchel, Olivenöl, Knoblauch, vor allem aber Safran, und zwar reichlich. Es gebe Menschen, die für eine Bouillabaisse sterben würden!
Was anscheinend auch geschah.
«Safran vermittelt das feine Brennen, den unvergleichlichen, wie soll ich sagen, historischen Geschmack, und die gelbe Farbe. Die ist auch wichtig! Da Safran aber ausnehmend teuer ist, wird er andernorts häufig weggelassen, das Gelb durch Karotten ersetzt», er stockte, «was natürlich ein Verbrechen ist…»
Woraufhin wir einige Sekunden lang dem unvergleichlichen Geschmack nachhingen, den wir auf der Zunge zu spüren meinten.
«Wo aber bleiben die Mandeltörtchen?»
Ja, darauf komme er sofort: Es habe damals in Marseille die berühmte Confiserie Leberre gegeben (vielleicht gibt es sie heute noch), berühmt für diese ihre duftigen Kreationen, so verführerisch, daß manche Leute nur deshalb in Marseille lebten, weil es dort diese Mandeltörtchen gab.
«Sie übertreiben.»
Er übertreibe durchaus nicht. Vielleicht könnten wir als Alemannen derartige Leidenschaften nicht ganz nachvollziehen, denn gleicherweise gälte das für die Bouillabaisse. Es gebe Leute…
«… die nur deshalb in Marseille wohnen?»
«Sie verstehen mich», sagte mein Schuldirektor, «nur scheint es so zu sein, daß der Geschmack des einen den des anderen ausschließt, das ist ganz verständlich. Mit Ausnahmen! Und eine solche Ausnahme war Henriette Dolangerant, Gattin des Beamten Frans Dolangerant, dem später - acht Jahre später - der Prozeß gemacht wurde. Dieser Ehrenmann also hatte seine Frau loswerden wollen, und er kannte ihre hemmungslose Affinität zu beiden Genüssen.»
«Ich verstehe nicht…»
«Sie werden gleich verstehen. Diese speziellen Mandeltörtchen erhalten ihren Geschmack, indem nicht nur süße, sondern auch bittere Mandeln verwandt werden, in geheimer und wohlabgewogener Portion natürlich, so wie allem Französischen das Quentchen Galle anhaftet.»
Als Metapher natürlich.
«Und diese - die Bittermandel», hier machte er eine Pause, «enthält bekanntlich das Thiocyanid.»
Oho.
«Zyan also, in winzigen, in winzigsten Mengen, und in diesen Mengen an sich völlig unschädlich.»
Aha.
«Aber vorhanden!»
Ich weiß nicht, ob es so gedacht war, aber gerade in diesem Augenblick schob sich eine Wolke vor die
Sonne, so daß fortschreitend von einem zum anderen Ende des Badegeländes alle Farben einem bleigrauen Mantel wichen, der sich über sie legte, ich konnte mich eines Frösteins nicht erwehren.
«Da hat sich Ihre Henriette Dolangerant also vergiftet?»
«Nicht so einfach», bremste der Schuldirektor ab, «zunächst bedarf es eines Movens, eines Agens, eines
Katalysators – – jedenfalls eines Auslösers, der die an sich stabile Verbindung instabil macht und das Zyan, so geringfügig es immer vorhanden sein mag, freisetzt!»
«Das erinnert mich an die berühmten Münchner Weißwurst-Morde aus der Systemzeit.»
«Vorsichtig», sagte er, «ich habe mir das nicht ausgedacht, es handelt sich um einen echten, belegten Fall aus, wie ich zugebe, eben dieser Zeit, aber in Marseille. Denn wo befindet sich das Agens, in welcher Substanz? Sie werden es nicht glauben.»
Im Safran.
«Im Safran», rief er aus, «im Safran der Fischsuppe! Die Fischsuppe vermählt sich mit den Mandeltörtchen, und das auf heftige Weise.»
«Also reine Genußsucht.»
«Langsam», sagte er, «es bedarf großer Mengen, damit es dazu kommt, es bedarf ekzessiven Mißbrauchs über lange Zeit. Und zwar beider Genüsse zugleich.»
«Völlerei», rief ich aus, «Ihre Henriette hat sich durch Völlerei zu Tode gebracht.»
«Nicht so schnell», rief er dagegen, «denn jetzt kommt der Ehemann ins Spiel. Er war es, der die Dame charmant von einem FischRestaurant in das andere führte, der sich gar nicht genug tun konnte mit den riesigen Schachteln voller Mandeltörtchen, die er ihr, charmant verpackt, mit Schleifen versehen als Nachtisch präsentierte, und es klappte auch nicht beim ersten oder zweiten, auch nicht beim zwanzigsten Mal, es bedurfte monatelanger Geduld - die ein Ehemann sowieso aufbringen muß -, aber einmal klappte es: Die roten Blutkörperchen werden paralysiert, können kein O mehr aufnehmen, es entsteht kirschrote Gesichtsfarbe, und Henriette Dolangerant ist tot.»
Gottsdonner.
«Und
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