Die schwarze Hand des Todes
seelenlosen Wohnsiedlungen von Sheffield oder Manchester. Fremde zogen in ihre alten Häuser, und auf ihren Weiden und Äckern entstanden Golfplätze oder Ponyhöfe. Für Ben Cooper war diese Entwicklung eine unsichtbare Tragödie, eine Art ethnischer Säuberung, mit der sich die Vereinten Nationen nie befassen würden.
Sein Blick fiel auf den seltsamen, nicht ganz runden Stein, der seit Jahrzehnten oder vielleicht auch schon seit Jahrhunderten neben der Hintertür des Farmhauses stand. Er war unten breiter als oben und hatte eine Vertiefung mit einem Loch in der Mitte.
Der Stein wurde seit Ewigkeiten als Stiefelkratzer benutzt oder um einzelne Schrauben darin zu sammeln. Doch dann hatte Cooper eines Tages das Foto eines ebensolchen Steins in einem Heimatkundebuch entdeckt. Die Bildunterschrift verriet, dass es sich um eine Handmühle aus der Eisenzeit handelte, in der Korn gemahlen wurde. Sie war zweitausend Jahre alt.
Die Handmühle hatte sich nicht verändert, sie sah noch genauso aus wie an dem Tag, an dem man zuletzt mit ihr gemahlen hatte. Heute sammelte niemand mehr Schrauben darin, niemand mehr kratzte sich damit den Lehm von den Stiefeln. Sie stand da, wo sie schon immer gestanden hatte. Sie wurde erhalten. Aber nicht mehr benutzt.
Während Cooper noch in der Tür stand, rief Kate aus der Diele nach ihm.
»Ben, vorhin hat Helen Milner angerufen. Sie klang nicht sehr glücklich. Sie hat erzählt, ihr wärt verabredet gewesen. Ich habe ihr gesagt, dass du wahrscheinlich arbeiten musstest.«
Cooper zuckte zusammen. Helen hatte ihn bestimmt beim Rugby-Club gesucht. Sie wollten sich doch heute treffen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie es ihm auslegen würde, dass er sie einfach so versetzt hatte, nachdem sie doch erst seit zwei Monaten miteinander gingen.
»Ich wollte sie anrufen, aber dann habe ich es völlig vergessen.«
»Das dachte ich mir schon«, sagte Kate. »Und Helen schien mir auch nicht sonderlich überrascht zu sein.«
Als Diane Fry nach Hause kam, wartete niemand auf sie. Sie wohnte in einer alten Villa in der Grosvenor Avenue, die in kleine Wohnungen und Einzimmerappartments umgewandelt worden war. Ihre Nachbarn waren hauptsächlich Studenten, die sie nur selten zu Gesicht bekam. Anscheinend saßen sie die meiste Zeit im Pub.
Fry fröstelte. Die feuchte Kälte, die schon im Sommer aus den Wänden gekrochen war, machte sich jetzt, im November, umso spürbarer bemerkbar. Sie durfte gar nicht daran denken, wie ungemütlich der Winter in Edendale werden würde. Mit der kleinen Elektroheizung würde sie das Zimmer niemals richtig warm kriegen. Außerdem war das Ding ein regelrechter Stromfresser.
Sie entspannte sich mit ein paar Dehnübungen, bis ihre Muskeln angenehm kribbelten. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte, und sie hatte auch nichts Essbares im Haus. Aber das Fasten tat dem Körper gut. Mit leerem Magen fühlte sie sich topfit und hellwach. Fry betrachtete sich prüfend im Spiegel. Man sah ihr die Verletzung nicht an. Doch das hieß nicht, dass keine Narbe zurückgeblieben war. Die Narbe, die sie davongetragen hatte, konnte außer ihr selbst nur niemand sehen. Niemand wusste, dass sie gezeichnet war. In dieser Hinsicht hatte sie mehr Glück gehabt als Maggie Crew. Viel mehr Glück.
Genau wie Maggie, die nicht wollte, dass ein Fremder ihre Entstellung sah, kannte auch Fry das bittere Gefühl, das man unweigerlich gegen einen Menschen entwickelte, dem man seine innersten Geheimnisse offenbart hatte. Am liebsten hätte sie Maggie geraten, nach draußen zu gehen und sich der Welt zu zeigen. Aber genauso gut hätte sie sich selbst raten können, sich endlich dem Menschen zu stellen, den sie mied wie die Pest.
»Du Idiot«, sagte sie und verwünschte sich im nächsten Moment dafür. Sie durfte keine Selbstgespräche führen. Aber eigentlich hatte der Idiot Ben Cooper gegolten, der sich so prächtig mit seinem Kumpel Todd Weenink verstand. Ein tolles Team, zwei vom gleichen Schlag. Aber zum Glück kannte selbst Ben Cooper nicht alle ihre Geheimnisse.
Als Fry Sheffield erreichte, wurde sie ruhiger. Nach den abweisend dunklen Bergen, die sie hinter sich gelassen hatte, fühlte sie sich in dem Meer aus Wohnhäusern und Fabriken, das sich schützend um sie schloss, wie geborgen. Das erste Mal war sie nach Sheffield gefahren, um sich ein neues Kampfsport-Zentrum zu suchen, nachdem sie den Dojo in Edendale, in dem Ben Cooper trainierte,
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