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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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zurechtzufinden. Und so ritt er drei Tage und drei Nächte lang im Kreise herum und verbrauchte alle Vorräte, die seine alte Amme ihm eingepackt hatte. Obwohl er um sich herum ständig das Plätschern fließenden Wassers hörte, konnte er weder einen Fluß noch eine Quelle entdecken. Als am Ende des dritten Tages die Dämmerung anbrach, war er hungrig und sehr, sehr durstig. Plötzlich sah er das erste lebende Wesen in diesem Wald: Eine alte Frau kam auf ihn zu, und sie trug einen großen Korb bei sich. »Mütterchen«, redete er sie an, »ich bin hungrig und durstig. Wenn du Essen und Trinken in deinem Korb hast, so gib mir bitte etwas davon.«
    »Ich habe reichlich zu essen und zu trinken«, entgegnete sie. »Aber ich werde dir nichts davon geben.«
    »Dann verkaufe mir etwas davon. Ich habe Gold.« Er zog eine Handvoll Goldmünzen aus seiner Satteltasche.
    »Stecke dein Geld weg«, erwiderte sie, »hier im Wald nützt es mir nichts.«
    »Kann ich denn etwas sagen oder tun, damit du mir etwas abgibst von dem, was du hast?« fragte er.
    Sie sah ihn seltsam an, und nach einer Weile erwiderte sie: »Gib mir alles, was du hast: dein Schwert, deine Rüstung, deinen Dolch, deinen Falken, deinen Hund und deinen Hengst. Dann will ich dir alles lassen, was ich in meinem Korb habe.«
    »Wenn ich dir alles gebe, womit ich mich verteidigen kann«, erwiderte der Prinz, »dann kann ich mich der vielen Gefahren des Waldes nicht erwehren, vor allem nicht des Ungeheuers, das die Menschen tötet und auffrißt.«
    Die alte Frau lächelte und sagte: »Du verlierst nichts, wenn du mir alles gibst, was du hast, denn dein Pferd und deine Waffen werden dich vor dem Ungeheuer nicht retten.«
    Sie sprach mit solcher Bestimmtheit, daß der Prinz ihr Glauben schenkte. Und so stieg er vom Pferd und gab es ihr, zog seine Rüstung aus und gab sie ihr, und ebenso gab er ihr sein Schwert, seinen Dolch, seinen Schild, seinen Falken und seinen Hund.
    Die alte Frau reichte ihm ihren Korb, und er öffnete ihn und fand ihn mit Fleisch und Getränken gefüllt. Er aß und trank sich satt und packte den Rest für die Weiterreise ein.
    Da sprach die alte Frau zu ihm: »Ich habe viele junge Prinzen in diesem Wald getroffen, und sie alle haben mir meine Vorräte mit Drohungen und Gewalt genommen. Du bist der erste, der mir nicht Gewalt angetan, sondern mir friedlich alles gegeben hat, was er hatte. Zum Dank will ich dir deshalb sagen, was all die anderen Prinzen nicht wußten. Ich werde dir sagen, wie du dich vor dem Ungeheuer retten kannst, wenn du ihm begegnest, was mit Sicherheit geschehen wird.«
    Der Prinz dankte ihr, und sie fuhr fort: »Alle anderen Prinzen waren verloren, weil sie auf ihre Waffen und ihre eigene Kraft vertrauten. Das einzige, was das Ungeheuer bezwingen kann, sind aber Wahrhaftigkeit und Mut, und du hast mir gegenüber beides bewiesen. Ich will dir deshalb das Geheimnis verraten, das dir helfen wird, das Ungeheuer zu besiegen. Du mußt wissen, daß jeder, der in sein Antlitz blickt, bewegungslos erstarrt, und deshalb kann kein Mensch, der es ansieht, hoffen, am Leben zu bleiben.«
    »Sieht es denn so häßlich und entsetzlich aus?« rief der Prinz aus.
    »Ich habe dir gesagt«, entgegnete die alte Frau, »daß jeder, der ihm in die Augen schaut, verloren ist. Das muß dir genügen. Deshalb mußt du die Augen schließen, wenn du es von weitem erblickst oder seinen Geruch verspürst. Hast du die Augen geschlossen, wirst du es an seinem entsetzlichen Gestank erkennen. Es wird sich mit schrecklichem Gebrüll auf dich stürzen, aber du darfst weder die Augen öffnen, noch versuchen zu fliehen. Wenn du dir nicht zutraust, die Augen geschlossen zu halten, verbinde sie dir, sowie du weißt, daß es in deiner Nähe ist. Dann mußt du zulassen, daß das Ungeheuer dich packt und an sich drückt, um dich zu erwürgen. In diesem Augenblick mußt du deine Furcht überwinden und dich gegen den Gestank stählen und mußt es auf sein bloßes Fleisch küssen.«
    Der Prinz erschauerte, aber die alte Frau sagte: »Ich sehe, daß du Zweifel hegst, aber ich versichere dir, daß dein Kuß das Ungeheuer verbrennen und ihm mehr Schmerz zufügen wird, als jede Waffe es vermag.«
    Der Prinz bedankte sich bei der alten Frau, sagte ihr Lebewohl und ging tiefer in den Wald hinein.
    Gegen Mitternacht fand er sich in einer großen Lichtung wieder, und nun, da der Mond und die Sterne ungehindert auf ihn herunterschienen, konnte er fast so gut sehen wie am

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