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Die schwarzen Juwelen 02 - Dämmerung

Die schwarzen Juwelen 02 - Dämmerung

Titel: Die schwarzen Juwelen 02 - Dämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Bishop
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Kraftreserven und sein Schamgefühl zu diesem Zeitpunkt restlos aufgezehrt waren, legte er keinen Widerspruch ein, als Jaenelle ihm zu einem Hocker half, der in der
Nähe eines großen Kiefernholztisches im Wohnraum des Hauses stand. Ihre Hände tasteten fest, aber behutsam seinen Rücken ab. Er starrte unverwandt auf die Eingangstür, noch nicht bereit, Fragen bezüglich des Heilungsprozesses zu stellen. Dann spürte er, wie ihre sanften Hände einen seiner Flügel entfalteten.
    Der Flügel legte sich wieder an seinen Körper. Anschließend wurde der andere gestreckt. Als sie vor ihn trat, blickte er nach hinten und betrachtete einen Flügel, der gesund und unversehrt aussah. Verblüfft biss er sich auf die Lippe und blinzelte die Tränen zurück, die ihm plötzlich in die Augen schossen.
    Jaenelle warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Flügel richtete. »Du hattest Glück«, meinte sie leise. »Noch eine Woche, und es wäre nicht mehr genug gesundes Gewebe vorhanden gewesen, um sie wiederherzustellen.«
    Sie wiederherstellen? Bei dem Schaden, den der Schimmel und die Salzminen angerichtet hatten, wäre selbst den besten eyrischen Heilerinnen nichts anderes übrig geblieben, als die Flügel abzutrennen. Wie konnte Jaenelle sie wiederherstellen?
    Mutter der Nacht, er war müde, doch es gab hier zu viele Dinge, die seinen Erwartungen zuwiderliefen. Er wollte alles unbedingt begreifen, ohne zu wissen, mit welchen Fragen er anfangen sollte.
    Da beugte Jaenelle sich vor, um den unteren Teil seines Flügels zu untersuchen, und ihr Halsschmuck schaute aus dem Hemd hervor. Später würde er sich erkundigen, weshalb Hexe ein saphirblaues Juwel trug. Im Moment jedoch zog der Stundenglasanhänger über dem Juwel seine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
    Das Stundenglas war das Symbol der Schwarzen Witwen, zugleich eine Art Kennzeichen und eine Warnung bezüglich der Hexe, die es trug. Ein Lehrmädchen trug ein Stundenglas, bei dem der Goldstaub in der oberen Hälfte des Glases versiegelt war. Beim Anhänger einer Gesellin befand sich der Goldstaub zu gleichen Teilen in der oberen und der unteren
Hälfte. Eine Schwarze Witwe trug ein Stundenglas, bei dem der ganze Goldstaub in der unteren Kammer eingeschlossen war.
    »Seit wann bist du eine fertig ausgebildete Schwarze Witwe? «
    Die Luft um ihn her kühlte sich merklich ab. »Beunruhigt es dich, dass ich es bin?«
    Offensichtlich gab es Leute, die diesen Umstand beunruhigend fanden. »Nein, ich bin bloß neugierig.«
    Sie warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu und fuhr mit ihrer Untersuchung fort. Die Lufttemperatur normalisierte sich wieder. »Seit letztem Jahr.«
    »Und die Ausbildung zur Heilerin hast du auch abgeschlossen? «
    Behutsam legte sie den Flügel zusammen und begann, seine rechte Schulter zu überprüfen. »Ja, auch im letzten Jahr.«
    Lucivar stieß einen Pfiff aus. »Klingt nach einem ziemlich hektischen Jahr.«
    Jaenelle lachte. »Papa sagt, er ist heilfroh, dass er es überlebt hat.«
    Eine mörderische Wut stieg in ihm hoch. Sie hatte einen Vater, eine Familie, und lebte hier dennoch ohne jegliche menschliche Gesellschaft, ohne einen einzigen Bediensteten. War sie wegen des Stundenglases in die Verbannung geschickt worden? Oder weil sie Hexe war? Sobald er wieder gesund war, würde sich ihr Vater an ein paar Dinge gewöhnen müssen – zum Beispiel an den Kriegerprinzen, der ihr von nun an dienen würde.
    »Lucivar.« Jaenelles Stimme und auch die Hand, die seine angespannte Schulter drückte, schienen von weit weg zu kommen. »Lucivar, was ist los?«
    Die Zeit verging langsam, wenn die Mordlust ihn gefangen hielt. Die Welt war auf einmal voll winziger Einzelheiten, die er messerscharf wahrnahm. Eine Klinge würde sich durch Muskeln bohren, Knochen zersplittern. Und sein Mund würde den lebendigen Wein trinken, nachdem sich seine Zähne in die Kehle eines andern gegraben hatten.

    »Lucivar!«
    Er blinzelte. Jaenelles Finger hielten ihn fest an den Schultern gepackt. Nach und nach bekam er die Mordlust, die ihn befallen hatte, wieder in den Griff und vergrub sie tief in seinem Innern, während die ihm angeborene Wildheit aufheulte und sich danach sehnte, freigelassen zu werden. Sinne, die in den Salzminen von Pruul abgestumpft waren, wurden neu geschärft. Das Land rief nach ihm, verführte ihn mit Klängen und Gerüchen. Sie verführte ihn ebenfalls; nicht sexuell, sondern spirituell. Er wollte eine unauflösliche

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