Die schwarzen Juwelen 02 - Dämmerung
eben dieses Buch las. Sie hatte nicht gehört, wie er eingetreten war, und als sie aufgeblickt und ihn endlich bemerkt hatte, hatte sie das Buch sofort hinter einem Kissen versteckt. Es hatte ganz den Anschein gehabt, als müsse er schon mit einem Heer anrücken, um sie von ihrem Kissenversteck zu vertreiben und den Band ausgehändigt zu bekommen.
»Es ist ein Liebesroman«, erklärte Jaenelle kleinlaut, als er seine halbmondförmige Lesebrille herbeirief und müßig in dem Buch blätterte. »Ein paar Frauen in dem Buchladen unterhielten sich darüber.«
Romantik. Leidenschaft. Sex.
Nur mit Mühe konnte er den Impuls unterdrücken, aufzuspringen und mit ihr durch den Raum zu wirbeln. War dies ein Zeichen, dass ihre Gefühlswelt heilte? Bitte, süße Dunkelheit, lass es ein Zeichen der Genesung sein!
»Du hältst so etwas für dummes Zeug.« Sie klang abwehrend.
»Romantik ist niemals dumm, Hexenkind. Na ja, manchmal ist so etwas schon dummes Zeug, aber es ist nie wirklich
dumm .« Er blätterte weiter darin herum. »Abgesehen davon habe ich früher selbst solche Romane gelesen. Sie waren ein wichtiger Teil meiner Ausbildung.«
Jaenelle starrte ihn mit offenem Mund an. »Wirklich?«
»Mhm. Natürlich enthielten sie im Gegensatz hierzu etwas mehr…« Er überflog eine Seite und schloss das Buch sorgsam. »Andererseits vielleicht auch nicht.« Rasch ließ er die Brille verschwinden, bevor sie am Ende noch beschlug.
Jaenelle strich sich nervös durchs Haar. »Papa, wenn ich irgendwelche Fragen haben sollte, wärst du dann bereit, sie mir zu beantworten?«
»Selbstverständlich, Hexenkind. Ich werde dich in allem unterstützen, was die Kunst oder deine anderen Fächer betrifft. «
»Aber nein, ich meine: doch, ich meinte …« Sie warf dem Roman, der vor ihm lag, einen bedeutsamen Blick zu.
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben! Die Vorstellung erfüllte ihn gleichzeitig mit Freude und abgrundtiefer Angst. Freude, weil er ihr vielleicht dabei helfen könnte, Gefühle zu entwickeln, die hoffentlich ein gewisses Gegengewicht zu den Wunden bilden würden, welche die Vergewaltigung hinterlassen hatte. Seine Angst rührte daher, dass Jaenelle die Dinge immer aus einem Winkel betrachtete, der sich komplett außerhalb seiner eigenen Erfahrungswelt befand; ganz egal, wie viel er über ein bestimmtes Gebiet wissen mochte.
Erneut überschwemmten Menzars Gedanken und Vorstellungen seinen Geist.
Saetan schloss die Augen in dem Versuch, der Bilderflut Einhalt zu gebieten.
»Er hat dir wehgetan.«
Sein Körper reagierte auf ihre mitternächtliche Grabesstimme und die Kälte, die auf einmal in dem Zimmer herrschte. »Ich war derjenige, der die Hinrichtung vollstreckte, Lady, und er ist es, der nun sehr, sehr tot ist.«
Die Raumtemperatur sank noch weiter, und die Stille, die mit einem Mal herrschte, war mehr als bloßes Schweigen.
»Hat er gelitten?«, wollte sie wissen, eine Spur zu ruhig.
Nebel. Von Blitzen zerrissene Dunkelheit. Die Kante des Abgrunds war sehr nahe, und der Boden unter seinen Füßen begann rasch abzubröckeln.
»Ja, er hat gelitten.«
Sie dachte über die Antwort nach. »Nicht genug«, stellte sie schließlich fest und erhob sich.
Benommen blickte Saetan die Hand an, die sie ihm entgegenstreckte. Nicht genug? Was hatten ihre Verwandten auf Chaillot ihr angetan, dass sie keinerlei Bedauern empfand, wenn jemand getötet wurde? Selbst er empfand Bedauern, wenn er ein Leben auslöschte.
»Komm mit, Saetan.« Sie betrachtete ihn mit ihrem uralten, gehetzten Blick und schien darauf zu warten, dass er sich von ihr abwandte.
Niemals. Er ergriff ihre Hand und ließ sich emporziehen. Er würde ihr niemals den Rücken kehren.
Doch er konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, als er ihr in das Musikzimmer folgte, das sich im selben Stockwerk wie ihre Zimmerfluchten befand. Ebenso wenig konnte er die nervöse Unruhe leugnen, die ihn beschlich, als er bemerkte, dass der Raum lediglich von zwei Kerzenleuchtern erhellt wurde, die zu beiden Seiten des Klaviers standen. Kerzen, keine Lampen. Licht, das bei jedem Luftzug zu tanzen begann und das Zimmer fremdartig und gleichzeitig sinnlich und bedrohlich wirken ließ. Die Kerzen erhellten die Klaviertasten und den Notenständer. Der Rest des Zimmers gehörte der Nacht.
Jaenelle rief ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen herbei, öffnete es und blätterte durch die Noten. »Viele davon habe ich im hintersten
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