Die schwarzen Juwelen 04 - Zwielicht
Oder?
»Das reicht für heute.«
Der Klang seiner Stimme ließ sie ins Taumeln geraten. Es kostete sie Mühe, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. »Was?«
»Das reicht.« Er nahm ihr die Stange aus den Händen. »Ich bin mir nicht sicher, wo du mit deinen Gedanken warst, aber du hast auf jeden Fall nicht aufgepasst.«
Oh, sie hatte sehr wohl aufgepasst, aber ihre Aufmerksamkeit hatte dem Mann und nicht der Übungsstunde gegolten.
»Es ist fast Mittag, und draußen hat es sich aufgeklärt.« Lucivar lächelte sie an. »Warum fliegen wir nicht zum Dorf hinunter? Ich lade dich zum Essen ein.«
Sie spürte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Heftig und tief. Kopfschüttelnd wich sie vor ihm zurück. »Das kann ich nicht.«
»Natürlich kannst du.« Er seufzte. »Marian, bloß weil du einmal eine Mahlzeit zu dir nimmst, die du nicht selbst gekocht hast, heißt das nicht, dass du deine Arbeit vernachlässigst.«
»Ich kann nicht.« Er hatte ein- oder zweimal erwähnt, dass er sie nie hatte fliegen sehen, doch sie war ihm immer ausgewichen. Aber jetzt …
»Warum nicht?«, wollte Lucivar wissen.
Ihr stiegen die Tränen in die Augen. »Ich kann nicht fliegen! Meine Flügel … sie wurden beschädigt. Sie sind wertlos.«
Er sah sie traurig und voller Verständnis an. Hier stand jemand vor ihr, der genau wusste, was dieser Verlust für sie bedeutete.
Dann wurden seine Augen kalt. »Wer hat dir das gesagt?«, fragte er gefährlich sanft.
»Das ist gleichgültig. Ich kann …«
»Wer hat dir das gesagt?«
Ihr war unbehaglich zumute, als sie sich die Tränen abwischte. Fast konnte sie sehen, wie die Wut in ihm zu schäumen
begann, wie sie Zentimeter für Zentimeter anstieg, bis es zur Explosion kommen würde.
»Jaenelle hat dich nach Kaeleer gebracht«, sagte Lucivar, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Sie muss die Heilung übernommen haben. Wenn sie dir gesagt hat, dass du nie wieder fliegen können wirst, musst du es akzeptieren. Aber das hat sie nicht, oder? Wer hat es dir also gesagt, Marian?«
Sie starrte ihn an, unsicher, ob es überhaupt noch sicheres Terrain gab, auf dem sie sich bewegen konnte.
Lucivar fletschte die Zähne. »Luthvian. Sie hat es dir gesagt.«
»Lady Angelline hat keinerlei Erfahrung mit eyrischen …«
»Selbst an ihren schlechtesten Tagen ist Jaenelle eine bessere Heilerin, als Luthvian es jemals sein wird.« Er schüttelte den Kopf. »Du glaubst, deine Flügel wurden beschädigt? Als ich nach Kaeleer kam, waren meine so oft gebrochen, so sehr von Schimmel zerfressen, dass kaum genug gesundes Gewebe übrig war, mit dem sich arbeiten ließ. Luthvian wollte sie entfernen. Jaenelle baute sie langsam wieder auf und heilte sie schließlich. Erzähl mir also bitte nicht, sie habe keine Erfahrung.«
Marians Beine zitterten. Sie hätte fliegen können? All die Monate, in denen sie zu viel Angst gehabt hatte, es zu versuchen, hätte sie über Ebon Rih durch die Lüfte gleiten können?
Heftig fluchend ging Lucivar in dem Zimmer umher, als könne er keinen Augenblick länger ruhig stehen bleiben. Schließlich blieb er vor ihr stehen. Seine ausgestreckte Hand ballte sich zur Faust.
»Lass sie nicht siegen, Marian. Lass nicht zu, dass man dich kleiner macht. Lass nicht zu, dass man dir das wegnimmt, was dir am meisten bedeutet. Weder die Familie, die deine Kraft und deine Fähigkeiten nicht zu schätzen wusste, noch die Mistkerle, die dir wehgetan haben - ja, ich weiß von ihnen - noch Luthvian. Lass sie nicht gewinnen. Kämpfe mit allem, was in dir steckt, für das, was du willst.«
»Es ist nicht das Gleiche«, rief Marian. »Ich bin nur eine Haushexe, und du bist …«
»Ich war ein Sklave!«, schrie Lucivar. »Ein Bastard und Mischling, der von einem Hof an den nächsten weiterverkauft wurde, während ich den ekelhaften Ring des Gehorsams trug, der mich unterwürfig machen sollte. Aber ich ließ mich nicht unterwerfen, weigerte mich, zu zerbrechen, und ich setzte mich mit jedem einzelnen Atemzug neu zur Wehr. Ich weigerte mich, weniger als ein Kriegerprinz zu sein, und zwang sie, sich unter meinen Bedingungen auf mich einzulassen. Egal, wie viel Schmerzen sie mir zufügten, ich zahlte es ihnen heim.«
»So bin ich nicht. Ich kann nicht kämpfen.«
»Hast du es je versucht?« Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Wenn du deine Flügel aufgibst, was wirst du dann noch alles aufgeben, bloß weil dir jemand sagt, du seiest nichts weiter als eine Haushexe?«
Etwas in
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