Die schwarzen Raender der Glut
glänzende glatte Fläche unter den Bäumen auffällt. Er senkt das Glas und stellt fest, dass ein Daimler unter der Kastanie geparkt ist. Dann entdeckt er zwei weitere Autos, beides dunkle VW Passat. Wenn Besuch da ist, denkt Grassl, wieso brennt im Haus kein Licht?
Plötzlich nimmt er einen Lichtschein wahr. So, als ob er ihn
durch einen Spalt erblickt hätte. Offenbar sind die Vorhänge vorgezogen, und dahinter ist eine Lichtquelle. Eine Lichtquelle, die sich bewegt.
Grassl lässt den Feldstecher sinken. In seinem Gehirn beginnt es zu arbeiten. Niemand geht mit Stehlampen spazieren. Wenn eine Lichtquelle sich bewegt, dann bedeutet das, dass jemand mit einer Taschenlampe hantiert. Wenn einer in einem dunklen Haus mit der Taschenlampe hantiert, ist er ein Einbrecher. Üblicherweise.
Seit wann fahren Einbrecher gleich mit drei Wagen vor? In der Johannes-Grünheim-Akademie sind allenfalls Bücher und alte Stilmöbel zu holen, auf deren Echtheit Grassl nicht einmal seinen alten Golf verwettet hätte.
Es sind also keine Einbrecher. Jedenfalls keine gewöhnlichen. Also sind es die Leute, wegen denen ihn der Alte Hals über Kopf mit zwei Paketen in die Schweiz geschickt hat.
Grassl findet, dass er schon angenehmere Gedanken gehabt hat.
»So Bürschle, wieder am Lure?«, sagt eine Stimme an seinem Ohr. Es ist eine grobe Stimme. Eine Hand packt seinen rechten Arm und reißt ihn zu sich her. Der Feldstecher fällt zu Boden. In der Dämmerung erkennt Grassl vierschrötige Umrisse. Er wendet sich ab und läuft in einen krachenden Schlag, Funken irren zitternd über den Horizont, Grassl erstarrt, dann lässt er sich fallen, bleibt reglos liegen, keine Reaktion, nichts, liegen bleiben.
»So billig kommst net davon«, sagt die grobe Stimme über ihm und packt ihn am Hemdkragen und reißt ihn hoch, Grassl windet sich und rammt seinen Ellbogen in den Bauch, der zu der Hand und der Stimme gehört, die Hand lässt ihn los, halb gebückt stürzt Grassl nach vorn, rempelt einen zweiten Mann, es ist der, von dem der Schlag gekommen war, der zweite Mann greift nach ihm, verfehlt ihn, Grassl stolpert ins Gebüsch, kratziges drahtiges Fichtengezweig schlägt ihm ins Gesicht, er rennt blindlings in die Düsternis, hinter ihm brechen die beiden Männer fluchend durchs Geäst, Grassl erreicht den
Waldweg und rennt und hastet in seinen Sommerschuhen, gleich wird er Seitenstechen bekommen, wenig hat er so gehasst wie Waldlauf, gleich nach dem Felgaufschwung kam das, er erreicht ein Gebüsch, wirft sich zwischen die buschigen Jungfichten und bleibt dort liegen, flach atmend . . . Über sich hört er zwei Stimmen.
»Wo ist das Scheißerle jetzt hin?«
»Der ist vor zum Trauf.« Die Antwort klingt ein wenig atemlos. »Vielleicht hagelt’s ihn runter.«
»Jedenfalls reicht’s ihm. Morgen läuft er marmoriert durchs Dorf.«
Irgendetwas juckt Grassl im Nacken. Mit schier übermenschlicher Anstrengung zwingt er sich, nicht zu kratzen. Zwingt sich, weiter flach und fast unhörbar zu atmen.
Die Schritte entfernen sich. Langsam kehrt Waldesstille zurück. Grassl fasst sich in den Nacken und zieht vorsichtig einen abgebrochenen dürren Zweig heraus. Dann tastet er nach seinem Gesicht.
Es fühlt sich feucht an. Und klebrig.
Vom Waldrand her hört er ein Splittern. Es hört sich rhythmisch an. Was . . .? Dann läuft so etwas wie ein kindliches Lächeln über sein zerschundenes Gesicht.
Es ist Zundts Audi, den sie kurz und klein schlagen.
Berndorf sitzt allein in einem schmuddeligen Abteil des Regionalzugs, der ihn zurück nach Heidelberg bringt, und schlägt den Hebel-Band auf, dort, wo er das Lesezeichen eingelegt hat: . . . Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war ...
Vergangenes, das nicht vergehen will. Er legt den Band auf den Sitz neben sich. Johann Peter Hebels Falun verschwindet
in nordischen Nebeln, Berndorf holt sein Notizbuch hervor und schreibt aus alter Gewohnheit ein paar Stichworte auf. Denn Volz hatte ihm noch alte Zeitungsfaszikel aus dem Jahre 1972 angeschleppt, vergilbte Seiten, noch ein paar Jährchen, und sie würden ganz zerfallen, 36 Punkt hohe Schlagzeilen, die von längst vergessenen Aufregungen handelten . . .
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