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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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hat keine Zukunft« wäre aus seinem Mund mehr als bloße Mißbilligung. Außerdem wüßte ich gern, welche Meinung er zur Planwirtschaft, zum Migrationsproblem, zum Klimawandel gehabt hätte. Urvasi schien amüsiert: Männer, die derart entschieden blicken und dabei doch über die napoleonische Beherrschtheit, die Désinvolture verfügen, verbinde ich unwillkürlich mit dem Gedanken an Bordsteine; ich frage mich, was sie, Persönlichkeiten, die Weisheit und Krieg mit Vernunft aussöhnen können, die das Parkett der Königshöfe ertragen, von dieser Grenze zwischen Fahren und Gehen halten mögen. Ich glaube, wir haben einen Politiker vor uns. Was meinen Sie, wandte sich Urvasi an mich und nicht an den unsichtbaren Dritten, der ihm glich und ihn fortwährend prüfte: Ist ein solcher Mann in der Demokratie möglich? Urvasi wartete meine Antwort nicht ab: Ich glaube schon. Mehr als das ist er nötig. Denn obwohl er die Hand am Dolch hat und das Medaillon halb im Wams verborgen ist, kann er abgeben und sogar, bei aller Statur, wirklich dienen. Ganz überzeugt wäre er zwar nicht, aber er tut es, darauf allein kommt es an. Ein Souverän auch hier – nicht nur darin, daß er so frei ist, furchtlos zu sein.
11
    Krähen flügeln über die Elbwiesen, landen wählerisch, begutachten ihr Frühstück unter erstaunlich langsam dirigierenden Kränen, wirken wie ein befracktes Orchester, das es aus den Feuern einer Premiere wieder in die Alltagsroutine verschlagen hat. Die Waldschlößchenbrücke liegt noch auf der Altstädter Seite, ein bulliger Stahlbogen; ich bin mir nicht sicher, ob ein heillos mißglücktes Leben darin wohnt. Vor dem Beginn von Eleganz allein gelassen, bleibt ihm nichts als Grobheit; seine Architekten rechnen Nutzen aus wie eine Erklärung und vergessen, daß Brücken auch zur Musik der Stadt beitragen. (Oder vergaßen andere? Die Wege sind lang und die Zwänge nicht kurz. Und manche haben taube Augen. Allerdings ist es gelegentlich, nicht nur zur Lüftung, nötig, Schneisen durch Puppenstuben zu schlagen.) Taucher steigen in den Fluß, fischen nach Blindgängern; hin und wieder zuckt wie eine müde weiße Wunderkerze das Lichtbüschel eines Schweißgeräts auf, Autos rollen unbeteiligt vorbei. In der Ferne schieben sich Plattenbauten wie Flöze in den Himmel.

Tor der ehemaligen Schloßkapelle 1986

… eine Kinderuhr aus weißem Plast mit Lanzettzeigern, grün der kleine, orangefarben der große, die Zahlen durchliefen den Regenbogen, an den tomatenroten Zahnrädern auf der Rückseite konnte man die Zeit einstellen; die Lehrerin ging durch die Klasse und hielt die Uhr hoch, sagte die Zeit an, und die Kinder, zu zweit in den Pulten, brav oder kippelnd auf den Schalenstühlen mit Gummistopfen, schwarzen Hufen, an jedem der vier Beine, wiederholten im Chor, halb neun, viertel sechs, zwei vor zwei; es roch nach Kreide und PVC-Fußbodenbelag; der Geschmack des Aluminiumdeckels auf der Milchflasche lag mir noch im Mund (die Flaschen für die Klasse holte der Milchdienst in der Milchpause), rosarote Erdbeermilch mit Eisstücken darin, manchmal so groß, daß aus den Flaschen nichts herauskam. Wir drückten Fingerlöcher in den Deckel, es schnalzte leicht; die Deckel trugen farbige Streifen, man konnte Mannschaften bilden: Erdbeer gegen Vanille, Buttermilch gegen Kakao; das blaue Halstuch der Jungpioniere knisterte, entlud sich in trockenen Funken beim Melden und Fingerschnippen, die Lehrer nickten einem der stillen Mädchen zu. ABC-Schützen, die Haare mit Zuckerwasser glattgekämmt, Namen wie Evelyn, René, Anke, Jens. Bald bin ich Jungpionier! frohlockte ein Schild auf einem Schrank voller Tassen – war das eine subtile Anspielung, ein surrealer Scherz? –, daneben lehnte ein Buch, »Pfefferpeter«, ein Freiheitsheld auf einem feurigen Rappen: so wollten wir Jungs sein, wie dieser Abenteurer, der durch ein Klassenzimmer im Jahr 1975 ritt, mit wehendem rotem Umhang und Schlag bei den Mädchen. Buchstaben hockten auf dem Fensterregal, bedrohlich und stimmlos (»Sprecht mir nach: W’hh … Fff … G’hh« – wir antworteten, ein fröhlicher Chor, »Weeh … Eff … Geeh«), zwischen den Buchstaben teilnahmslose Topfpflanzen. Am ersten Schultag kam ein Fotograf, schleppte seine Plattenkamerain einen Winkel des Klassenraums, verschwand probeweise unterm schwarzen Tuch, dirigierte. Hände und Unterarme auf den Tisch, die Hände flach übereinander. Gerade sitzen. Federmappen unter den Tisch, Ranzen an den

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