Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

sonnenköniglicher, in Nachtschattenlauge getauchter Geschmack erbrach seine Pretiosen; ich kannte das Bild, zu dem sie sich fügten, es entstammte dem Anatomiebuch meines Vaters und hieß »Der Homunkulus«. Es zeigte die kortikale Repräsentation von Bewegungen, die Proportionen des Menschleins waren grotesk verschoben: Ein Gesicht wälzte sich wie ein Stück Körperteig, am Daumen einer monströsen Hand hängend, mit losgelöster Zunge die Hirnrinde hinab, während Füße und Rumpf embryonal klein und lurchhaft blieben. Im Grünen Gewölbe wurde die Zeremonie zum Abbild der Welt – in ihrer komplizierten Mechanik griffen plötzlich Zahnräder ineinander, der Klang, den das erzeugte, wurde ein Concerto grosso von Georg Friedrich Händel. Gleichzeitig war ein ungeheurer Diebstahl im Gange: Die Schwerter des Hasses und des Ich-Ich fuhren aus den präsentierten Stücken, denn miteinander Gefechte um Aufmerksamkeit auszutragen versprach, hier, mehr als Zurückhaltung. Ornamente in derartiger Fülle verrieten an Schlangennestern geschulte Sinne, und der geradezu bergmännische Drang, in die Gebiete der Explosivgemische, der perfiden Vergnügen vorzudringen, das ganze wilde Gebastel um eines lieben kaulquappigen Lebens willen erschienen mir obszön – und gleichzeitig von brutaler Lauterkeit; Obszönität ist nichts anderes als die Hitze um den Bohrer, der das Gebirge auf der Suche nach Erz durchpflügt. Mich wunderte, daß hier nichts bodenständig war. (Das Bodenständige ist immer achtenswert – und verdankt der Realität zu viel; mit Konsequenz es wenigstens einmal wegzuhalten, kann die interessanteren Wirklichkeiten erzeugen.) Mich fesselte die deutlich spürbare Lust an der Anarchie, die als monstre sacré aus einem Schachbrett wächst, auf dem sich die Linien der Mondänität und der kraftvollen, dekadenten Fieber kreuzen. Mir imponierte der Wille, die Dinge vom Alltag freizusprechen. Denn Alltag derart zu übersteigern, hieß, Nützlichkeit einen Schmerz namens Schönheit abzufoltern. Ein Bergkristallpokal glich einem Schiff aus Spinnweben. Das Lederfutteral, in dem das Spinnwebschiff unfaßbare Reisen hinter sich gebracht hatte und ohne dessen Schutz es preisgegeben war wie ein frischgeschlüpfter Hautflügler, hatte Macht abgegeben, die Metamorphose vom Aufpasser zum Kameraden überstanden; war nun zur Würde eines maßgearbeiteten, nach all den Jahren lediglich verblaßten Schuhs gereift. Befragt nach den Wünschen, hätte ich hier noch nicht »Zeit« geantwortet. Ich spürte, daß eine Stadt durch ihr Lebendiges galt und Bedeutenderes umfaßte als ein Ensemble von Gegenständen, Lokalitäten und mehr oder weniger charakteristisch zu einem Stil zusammengefügten Steinen. Eine Stadt – eine Summe der Augenblicke, die blieben, an die man sich erinnerte; und wenn es im Grünen Gewölbe auch nur Dinge waren, so erzeugten sie noch immer ein solch stark beschwörendes Magnetfeld, daß sich die Gesten hinter ihnen nur einen Schleier entfernt vollendeten. Man konnte sie sehen, die höfische Gesellschaft, eine äquatorial üppige, untergegangene Zoologie, das Zeitalter der Prunkinsekten.

Villa »San Remo« 1994

10
    Mich faszinierte eine Kugel, in der August der Starke die Zukunft gesehen haben wollte. Als in Dresden Baumfarne wucherten, Meganeura-Libellen am Polizei- und am Telefonpalast vorbei durch Sumpfurwälder schwirrten, das Schilfland, von dem Neo Rauch spricht, sich noch nicht zurückgezogen hatte, im Dresden quallengroßer Schneeflocken, die sich still wie der Beginn von Verrat über die Stadt senkten, gehörten die Bilder nächtlichen Besuchern wie mir, sie hingen halbvergessen in den Radnetzen volkseigener Alarmanlagen, wenig beachtet von Touristen und Schulklassen, die zu Canaletto oder den drei Dresdner Frauenikonen strebten. (Sonderbar, daß sie die Heilige, die Göttin der Lust und die Dienstbotin darstellen. Sagt das etwas über die Psyche einer gewesenen Residenz?)
    Raffaels Sixtinische Madonna im Dämmergrün aus Verklärung und Wagemut, mit einem Papst, der zu vermitteln versucht, auf die Betrachter des Tableaus weist und sie der Gnade der Unsichtbaren empfiehlt. Viel Weihrauch, aber: Jemand war weggegangen und nicht wiedergekommen, etwas Fernes versuchte den Betrachter zu erreichen, wohnte zurückgezogen und schien doch Anteil zu nehmen an allem, was außerhalb der Barriere geschah, auf der die beiden kessen Schelme lümmelten, altkluge Mitarbeiter der Obersten Verwaltung. Die himmlische