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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Kreideblüten demonstrierte, prallte der Ton vom Gagatschwarz eines Eichhörnchenauges zum Lauschpinsel eines ausgestopftenLuchses, der grämlich und mottenzerfressen auf einem Brett hockte, berührte die theatralisch gebreiteten Schwingen einheimischer Greifvögel, bevor er von Unken in formalingefüllten Zylindern, Spinnen in versiegelten Glastöpfchen, eingelegten Nattern verschluckt wurde. Ich mußte erneut auf das Geländer schlagen, hoffentlich würde mich der Hausmeister nicht erwischen, der genug zu tun hatte mit den Folgen üblicher Schülerstreiche: gesüßten Hortkindertee an Tapeten spritzen, so daß sie in der Sommerhitze klebrig wurden wie Fliegenpapier, Chemikalien stehlen und in den Toilettenbecken für farbig-geräuschvolle Furore sorgen, anzügliche Bildchen in die Klassenbücher schmuggeln, all die kleinen Abtrünnigkeiten, mit denen wir Anschluß suchten an die Geschichte der Abenteuer. Für ein Morsesignal, das über die Weiten der Ozeane verbinden soll, war der Ton zu breitspänig, und doch genügte er, um mich das Geographie-Kabinett sehen zu lassen: den Globus (auch eine Uhr mit seinen Apfelsinenschnittlinien aus Längen- und Breitengraden, Datumsgrenze, Greenwich-Meridian, gestrichelten Wendekreisen), die Hermann-Haack-Kartenrollen im Wandgestell, die man in eine Art Staffelei klinkte und vor dem Unterricht auszog wie eine Kinoleinwand; der Film, der darauf lief, entstammte unserer Phantasie. Wünschelrutengänge, Türen im Raum, Verschiebungen nautischer Skalen, Blicke aus dem Zebra-Helldunkel von Jalousien, der zu einem Stab ausgezogene, gegen die Karten pochende Kugelschreiber des Lehrers; der Sog der Namen. Dahomey. Salomoneninseln. Tasmansee. Flüsse schwemmten ihre Mythen durch unsere Sinne, Ob und Irtysch, der sagenumwobene weiße Pulsar stieg über der Tunguska, der Marinechronometer im Physik-Kabinett beschwor Kreuzer und Karavellen; wir hörten Cook, ließen uns mit Humboldt auf dem Orinoko von Mücken zerstechen, feierten Papanin, das Pausenklingeln riß uns aus den Träumen.

Dr.-Külz-Ring 2010

12
    Wenn ich aus der Schule kam, blickte ich den langen, kompakten Block entlang, in dem meine Eltern durch glückliche Zufälle und das notorische Erscheinen meines Vaters auf der Wohnungsvergabestelle eine Dreiraumwohnung mit Vollkomfort (fließend Wasser, Zentralheizung) ergattert hatten, fünfter Stock im ersten Aufgang links, Wohnung Nr. … Ich mußte mich über die Lage unserer Wabe in der Bienenkaserne vergewissern und tat es, indem ich die Farbfolgen der Balkone mit denen in meiner Erinnerung verglich, die Nummer unseres Hauseingangs mit jener Ungläubigkeit musterte, die von Wirklichkeiten erzeugt wird, die sich wie Träume benehmen; immer wieder die Hausnummer, die uns Kindern eingebleut wurde (»ich heiße sowieso, ich wohne …«: die Angst unserer Eltern, wir könnten verlorengehen, war unbegründet, aber verständlich); ich interessierte mich für die Arbeit der Windräder an den Brüstungen, in den Halterungen für die Fahnen zum 1. Mai oder Republikgeburtstag, überlegte, ob ich zur Elbe gehen sollte, auf ein Fußballspiel (damals wurde Dynamo Meister mit der Mannschaft um Dixie Dörner) oder auf einen Erkundungsgang in die Konservenfabrik: das würde noch abzumachen sein. Allerdings hatte ich den Auftrag bekommen, im Eg-Gü-Werk eine bestimmte Schuhcreme zu kaufen. Vorsichtshalber kickte ich einen Stein in Richtung des Polizisten, der mich kannte, weil er meinen Bruder und mich einmal aus einem der zahlreichen Müllcontainer gefischt hatte, in denen wir nach Brauchbarem gesucht, Halsschmerztabletten gefunden und uns sogleich einverleibt hatten; quicklebendig, aber mit gelben Schnuten hatte uns der Ordnungssammler gegen unseren heftigen Protest zu Hause abgeliefert; was half’s! Die Container waren zu interessant. Ein andermal fanden wir einen Satz kaputter Flachzangen, ein Portemonnaie voller Zweimarkstücke, die uns ebenso unerwartete wie langwährende finanzielle Beweglichkeit verschafften, Dutzende steifer und räudiger Kuhfelle, Spielzeugmaschinenpistolen in Mengen, wahrscheinlich Ausschuß einer Fabrik. Die in den erwärmten Johannstädter Winden trägen Fahnen vor der Kaufhalle standen mit den meine Erinnerung mächtig und unerwartet hoheitsvoll durchgleitenden Autos in Verbindung, die Geräusche der Pausenhöfe mit den jeden Mittwoch um dreizehn Uhr probenden Sirenen, die Spuren der Düsenjäger am Himmel mit den Stimmen aus den Radios, die die Bewohner des

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