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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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in der Familientafel war leer). Unvergeßlich sind mir die kälterauchenden Nächte, wenn wir Großmutter zu ihrem Geburtstag, der in den Februar fiel, in Leutersdorf besuchten. Ihre Wohnung bestand aus zwei kleinen, einzelnen Zimmern, die der Hausflur trennte, an dessen Ende die Küche lag. Mein Bruder und ich schliefen in einer vom Nachbarn abgetretenen Kammer voller erbaulicher Schriften (der Nachbar, Herr Schmidt, war Siebenter-Tags-Adventist); wenn ich aufwachte, was wegen der zu kurz geratenen Decke und der im Zimmer herrschenden Minusgrade oft geschah, ruckte ich an den Bibeln auf dem Nachtschrank, morgens waren sie festgefroren. Plumpsklo im Anbau, die Notdurftzellen durch Bretterwände getrennt, die schweren Deckel vereist in der Frühkälte, ich hörte Herrn Schmidt auf dem Holzthron nebenan mit gurgelnder Stimme beten. Großmutter arbeitete als Legerin / Ausschneiderin in der Fallschirmproduktion Seifhennersdorf, stand wochentags um 4.15 Uhr morgens auf, um den Schichtzug zu erreichen – ich habe sie nicht ein einziges Mal verbittert oder klagend gesehen, sondern als lebenszugewandte, bescheidene Frau kennengelernt, die Bücher liebte und meiner Mutter das zu ermöglichen versuchte, was in ihren Kräften stand. Die Qualität der Seifhennersdorfer Fallschirme (man fertigte, natürlich, für die Armee) übertraf die der Bundeswehr, aus Fallschirmseide nähte Mutter Fäustlinge, die alle Prüfungen bestanden.
    Die Kinderklinik des Stadtbaurats Paul Wolf ist abgerissen worden; ich sehe die auf Fotos gebannte Zeit, sie scheint zu sagen: sieh, berühre mich, ich bin da und kehre wieder, ich bin nicht vergangen, ich bin nur nebenan. Während ich an Neubauten vorbei auf die Geburtshilfeklinik zugehe, die von der Zikkurat der Chirurgie bedrängt wird, erinnere ich mich an das Licht der Siebziger, in dieser Gegend: Orange, das ins Pfirsichfarbene überging, wenn die Dämmerung hinter den Elbbrücken ihre Empfindlichkeits-Tauschgeschäfte begann; dünnes Grün über den Elfgeschossern an der Pfeifferhannsstraße, das die Autos auf dem Parkplatz hinter der Kaufhalle, ihre noch von Tagespflichten erregten Auspüffe mit Spindeln aus Frieden lähmte; Wolkenpastelle über dem Trinitatisfriedhof, dessen Entrücktheit vom Gestank der Stadtreinigungszentrale (die Müllautos parkten direkt hinter den Grabsteinen), vom Geruch aus dem Backwarenkombinat und allen Gesten, die er beherbergte, von den klingelnden Kränen des Plattenwerks, allnächtlich dort ein und aus fahrenden Tiefladern geprüft wurde; jener kaum zu beleuchtende Rest in den Waben der Erinnerung, der sich an den Sehbahnrändern verliert, Horizontkühle, die Farbe der Fenster zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt.

Blick von der Kunsthochschule 1989

… um die Pulte, Preßspanplatten, mit Sprelacart furniert, lief ein Stoßrand aus grauem Gummi, in den wir unsere Initialen schnitzten, sobald wir schreiben konnten; die Kerben wurden mit Kugelschreiber oder Füller ausgemalt. Für Frieden und Sozialismus – seid bereit! – Immer bereit! Die Daumen gestreckter rechter Hände schnitten an den Scheiteln; kam es nicht akkurat, wurde geübt, aber es verlief nie in Geometrien, hart und exakt wie die Kanten des großen Dreiecks, des braunen Meterlineals mit Metallgriff, das neben 180°-Winkelmesser und armlangem Zirkel in der Nähe der volkspolizeigrünen Wandtafel schwelte, tagsüber wartende, mit den Lehrern stumme Einverständnisse teilende Gespenster, und manchmal, wenn ich allein durch das Schulhaus ging, sah ich mich um, bevor ich die Treppe in den Keller hinabstieg, wo sich der »Werken«- und der »Schulgarten«-Raum hinter der Schülergarderobe befanden, sprang mehrere Stufen auf einmal hinab in der Angst, das Dreieck oder der Zirkel würden mich verfolgen. Das Geländer brummte, wenn man draufhieb, ein mit Gewittergrollen und Elektrizität geladenes Geräusch, das sich im Schulgebäude verflüchtigte, dem Russischzimmer einen Besuch abstattete, mui goworim po-russki, dem Englischzimmer, wo ein Fernseher lief mit der Sendung »English for you«; eine Frau mit Eulenflügelfrisur und dicker Brille unterbrach die Szenen mit Tom and Peggy (später Mike and Anne) und forderte »say after me, please«. Im Naturwissenschaftstrakt drang das Geländerbrummen durchs Schlüsselloch in den Vorbereitungsraum Biologie, dort herrschte Geheimnis, und während das Gemurmel des Lehrers im Klassenzimmer die Mendelschen Regeln an den Kreuzungen roter und weißer

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