Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Seitenhaken, Fibeln aufgeschlagen. Die Horterzieherin bitte an die Tür, die Klassenlehrerin neben den Schaltkasten und den Schrank mit den Tassen. (Ich weiß nicht, ob der Fotograf unter seinem Tuch lächelte.) Die Bücher im Regal an der Fensterwand zum Betrachter rücken. »Tiere im Zoo«, »Teddy Brumm«, »Vater ist mein bester Freund«, »Das kleine Flußpferd«. Darunter Spielzeug: Düsenjäger, Raketenwerfer, Funkstationen, sowjetische Raumschiffe. Noch einmal die Halstücher zurechtrücken. Alle drehen den linken Arm mit dem »JP«-Fackelzeichen zum Betrachter. Die Kinderfüße in den Hausschuhen berühren nicht den Boden. Lächeln, stillhalten.
Unterliegende Schichten, Verborgenes, der gegenwärtige Augenblick schiebt sich wie ein Prisma über Bruchstücke der Vergangenheit und ordnet sie zu vorläufigen Kaleidoskopen. Das Eigentliche, wer weiß es? Geruch und Tastsinn, Bilder, Stimmen, ein Bündel von Antworten an die Sinne, die noch nicht verschuldet waren, sie hatten noch keine Fragen gestellt. Lotgewichte der Existenz. Was ich sehe, auf dem Weg zu meiner jüngsten großen Liebe, Nora, Tochter mit seehundfarbenen Augen und einer Fülle von Japanerhaar, ist für mich immer noch die »Akademie«, nicht das Universitätsklinikum, wie der Bezirk zwischen Pfotenhauer-, Fetscher-, Fiedler- und Schubertstraße heute offiziell heißt. Akademie: Das waren die Schwesternhauben, die man morgens wie gläubige Asteroiden über den Wegen steigen sah; Elektrokarren, die mit dem metallischen Geplapper von Essenkübeln über die Straßen des Klinikums fuhren, das waren die Treppenhäuser in den Gebäuden mit Gewölbefluren und Zehnbettenzimmern, die unterirdischen Gänge, in denen, nahe den Aufzügen (es wimmelte von Ratten), Zigaretten Erleichterung von den Angriffen aus Krankheit verschafften, Leitungen tropften, Stationshilfen Körbchen mit Blutproben und Medikamenten an ihre Bestimmungsorte trugen, die Verstorbenen unauffällig beiseite gebracht wurden. Es war die Welt symbolisch blickender Herren auf gerahmten Fotos, Vor- und Vorvorgängern amtierender Ordinarien,machtlos gegen autistisch gewordene Fenster mit Baskülverschlüssen und die hypnotische Klarheit von Luer-Spritzen aus Glas mit Stahlkanülen, die im Sterilisator ihre Keime ausschwitzten; die enge, scharfriechende Welt der Stationsspülen, in denen die Urinflaschen und Bettpfannen der Patienten geleert, Handschuhe zum Wiederverwenden getrocknet, dann mit Talkum gepudert wurden. Es war die Welt meiner Eltern in einer Zeit der Klinikparteileitungen, der Kollektive der sozialistischen Arbeit, der Flaggenparaden zum 1. Mai, Kampftag der Arbeiterklasse, an dem, nach Anwesenheitskontrolle, die Abteilungen über die Thälmannstraße bis zur Tribüne am Altmarkt marschierten, wo es eine Kundgebung gab und jemand Reden von Zukunft und Fortschritt hielt. Mutter als Schwesternschülerin auf der Treppe der Kinderklinik fotografiert, die ein fortschrittlicher Bau war mit Balkonen, wo die Neugeborenen ihren Schlummer an Sonne und Luft hielten. In der Milchküche lernte sie die feinste Nahrung zuzubereiten, die für das jüngste, das verletzlichste Leben. Meine Eltern hausten im Schwesternwohnheim an der Senefelderstraße, in einem Zimmer von elf Quadratmetern, der Stubenwagen, in dem ich schlief, stand neben dem von Anatomieatlanten geflügelten Schreibtisch meines Vaters, an dem er für Prüfungen lernte. Mutter fürchtete die Kakerlaken, die in riesigen Sippen hinter den Wohnheimwänden auf die Nacht warteten. Sie gehörte der Generation an, die neben dem Abitur einen Beruf erlernte (»Halbfacharbeiter für Feldbau«) und die Ferientage meist mit Ernteeinsätzen oder in FDJ-Lagern verbrachte. Sie ging gern ins Kino, mochte den belgischen Sänger Adamo und Alain Delon. Von ihr habe ich die hohen Wangenknochen und die Himmelfahrtsnase, fernes Erbe wohl irgendeines mongolischen Bogenschützen am westlichen Saum von Dschingis-Khans Heer, auch das Interesse für »Hinterland« und all die mehr oder weniger versunkenen deutschsprachigen Inseln in Europa. Meine Großmutter, bei Breslau geboren, wo sie als Magd auf einem Gut arbeitete, verließ Schlesien als Vertriebene; später wohnte sie in Leutersdorf, einem kargen Ackerfleck an der tschechisch-polnischen Grenze. Dort, in der Oberlausitz, für die Umgebindehäuser und das gaumige »r« charakteristisch sind, wuchs Mutter auf, in den einfachen Verhältnissen einer Arbeiterfamilie ohne Vater (weder Name nochFoto, sein Feld
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